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Die Ordoliberalisierung Europas

Kaum eine Denkrichtung wird heute so leidenschaftlich missverstanden wie der Neoliberalismus. Dass viele ihn mit entfesseltem Raubtierkapitalismus gleichsetzen, zielt am Kern komplett vorbei. Schon die historische Bedeutung des Begriffes sieht anders aus. Thomas Biebrichers neues Buch klärt auf, kompetent und ideologiefrei. Seine Studie besteht nicht nur aus Rekonstruktion und Analyse, sondern auch in der Kritik des neoliberalen Denkens – und dessen Einfluss auf die Euro-Zone.

Mal ist er Kampfbegriff oder Schimpfwort, mal intellektuelle Phrase oder Mundtotmacher: Kaum ein politisches Wort wird so oft missinterpretiert, negativ konnotiert oder schwammig verwendet wie der Begriff „Neoliberalismus“. „Für die einen ist er ein Synonym für die entfesselten Kräfte des Turbokapitalismus – für die anderen die moderate Variante des altliberalen Imperativs des Laissez-faire“, schreibt Thomas Biebricher in seinem neuen Buch „Die politische Theorie des Neoliberalismus“. Der Begriff diene vor allem als polemisches Instrument in politischen Diffamierungskampagnen.

Biebricher ist Professor für die Geschichte ökonomischer Governance an der Copenhagen Business School. Mit seiner rund 340 Seiten langen Studie, die auf der überarbeiteten Version seiner 2017 eingereichten Habilitationsschrift aufsetzt, gelingt es ihm, mit Vorurteilen aufzuräumen, ohne die kritische Distanz zu verlieren. Gleichzeitig untersucht er, inwieweit bestimmte Variationen neoliberalen Denkens autoritäre Dimensionen beinhalten, die heute auch in Europa sichtbar werden.

Biebricher zeigt zunächst, wie sich der Neoliberalismus als eine Reaktion auf die Krise des Liberalismus in den 1930er-Jahren entwickelt. Höhepunkt war das Walter-Lippmann-Kolloquium von 1938 mit 25 Teilnehmern aus verschiedenen europäischen Ländern. Zu diesem Kreis gehörten Denker wie die deutschen Ordoliberalen Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, aber auch Friedrich August Hayek, Milton Friedman und James Buchanan. Die Teilnehmer waren zu der Überzeugung gelangt, dass der Niedergang des Liberalismus bereits mit Beginn des Ersten Weltkriegs eingesetzt hatte. Aufgrund des apokalyptischen Szenarios des Krieges und der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Folgen für Europa erschien ihnen der Liberalismus rund 20 Jahre später dem Tode geweiht. Deswegen galt es, den Liberalismus und die damit verbundenen Bedingungen funktionierender Märkte und Gesellschaften zu modernisieren.

In dem Wort „Neoliberalismus“ fand sich schließlich der Begriff für eine gemeinsame Agenda. Diese beinhaltete auch eine Distanzierung von Laissez-faire-Politik und den Vorstellungen selbstregulierender Märkte. Der „neue“ Liberalismus hatte zum Ziel, viel stärker als zuvor seinen sozialen Verpflichtungen gerecht zu werden (Hayek: „Die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs ist sehr wohl auch mit einem ausgedehnten System der Sozialfürsorge vereinbar – solange dieses so organisiert ist, dass es den Wettbewerb nicht lahmlegt.“). Im ordoliberalen Sinne Walter Euckens sollte sich der Staat auch nicht auf der Schöpfung der Wettbewerbsordnung ausruhen, benötige diese doch beständige Pflege und regelmäßige Anpassung, um Märkte vor ihrem Verfall bewahren zu können. Die neoliberale Theorie war nun viel mehr an der Schnittstelle von Politik und Gesellschaft und Ökonomie interessiert.

Ideologisch ist sie allerdings bis heute nicht eindeutig zuzuordnen – und steckt nach wie vor voller Diskrepanzen. Das sei nicht weiter verwunderlich, meint Biebricher, denn schon „der Liberalismus ist eine Denkströmung, die sich – positiv ausgedrückt – dadurch auszeichnet, dass sie von einer beneidenswert reichhaltigen Vielfalt gekennzeichnet ist, und von einer überraschend heterogenen Gruppe von Denkern und Denkerinnen als intellektuelle Heimat angesehen wird.“ Biebrichers Überzeugung ist es allerdings, dass das neoliberale Denken auch heute noch eine genuin politische Theorie enthält oder zumindest bestimmte Elemente einer solchen Theorie. Um diese These dreht sich auch der erste Teil des Buches.

Ordoliberale Transformation

Im zweiten Teil wendet sich der Autor dem „real existierenden Neoliberalismus“ zu. Dort konzentriert er sich vor allem auf den Einfluss des Neoliberalismus auf Europa: Inwieweit stellen die EU sowie die Wirtschaft- und Währungsunion ein Labor zur Entwicklung neuer neoliberaler politischer Formen dar? Die Antwort des Autors: Die Europazone entspricht in ihrer aktuellen institutionellen Ausgestaltung zunehmend den politischen Vorstellungen des Ordoliberalismus als einer spezifischen Variante des Neoliberalismus. Biebricher nennt diese Entwicklung die „Ordoliberalisierung Europas“. Nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit habe im Zuge aller Reformen oberste Priorität, auch verfüge die Eurozone „heute über eine Wettbewerbsordnung, die all ihre Mitgliedsländer in eine bestimmte, als wünschenswert angesehene Form der Konkurrenz zwingt.“ Aufbau und Struktur der EU ähnelten den Entwürfen, die von ordoliberalen Denkern wie Walter Eucken entwickelt wurden.

Dass Biebricher in seinem skizzenhaften, aber pointierten Epilog über das Verhältnis von Neoliberalismus und Autoritarismus zu dem Ergebnis kommt, dass es in vielen aktuellen rechtspopulistischen Positionen weltweit auch erkennbare neoliberale Anleihen gibt, ist genauso schockierend zu lesen wie warnend.

Fazit

Der Autor versucht das neoliberale Denken von seinen Vorurteilen zu befreien, ohne es zu verherrlichen. Das ist ihm gelungen. Wer das Buch liest, wird den Begriff „Neoliberalismus“ zukünftig mit mehr Augenmaß verwenden.

Thomas Biebricher: Die politische Theorie des Neoliberalismus, Suhrkamp, Berlin 2021

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