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Tarifautonomie: Stabilisator der Sozialen Marktwirtschaft

Über hundert Jahre ist sie nun alt – und noch immer schmeckt sie nicht jedem: die Tarifautonomie. Die Gründe dafür sind zahlreich und so berechtigt wie falsch. Höchste Zeit, über eine einflussreiche Säule unseres Arbeitsmarktes zu schreiben. Wer das vorliegende Buch liest, erhält einen guten Einblick in Struktur, Entwicklung und Möglichkeiten der Tarifautonomie – und wird sie als Stabilisator der Sozialen Marktwirtschaft neu entdecken.

Es ist nicht so einfach, ein Buch zu schreiben, das schon im Titel so sperrig daherkommt, dass man es am liebsten schnell wieder unter den Stapel ungelesener Bücher schieben möchte. Und doch irrt sich jeder, der hinter dem nun erschienenen Werk „Tarifautonomie und Tarifgeltung – zur Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie im Wandel der Zeit“ einen öden Schinken vermutet. Mitnichten!

Wer sich wirklich für das Thema „Tarifautonomie“ in Deutschland interessiert, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen. Denn es ist angesichts seines doch mehrheitlich wissenschaftlichen Duktus nicht nur verständlich und flott geschrieben, sondern auch inhaltlich höchst informativ und kompetent verfasst. Das liegt in allererster Linie an den Autoren, nämlich den vier Expertinnen und Experten für Tarif-, Arbeits- und Sozialpolitik Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider und Sandra Vogel. Dann aber auch daran, dass das Buch als Desiderat einen ausgezeichneten Überblick über die wesentlichen Entwicklungen und Debatten über Tarifautonomie seit ihrer Entstehung bietet.

Die Tarifautonomie als Zankapfel

1918 wurde sie mit dem Stinnes-Legien-Abkommen (dem sogenannten Novemberabkommen, einer Kollektivvereinbarung zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften) institutionalisiert. Mit Hitlers Machtergreifung 1933 schafften die Nazis sie ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie von den Gründervätern der Bundesrepublik 1949 wiederbelebt und verfassungsrechtlich garantiert (Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes). Sie trug früh zum sozialen Ausgleich in der Marktwirtschaft bei. Nach der Wende 1990 dehnte sie sich schließlich auf die neuen Bundesländer aus.

Immer schon war die Tarifautonomie Gegenstand politischer Kontroversen und Konflikte. Vor allem seit den 1980er-Jahren und der einsetzenden Globalisierung wurde sie zum Zankapfel. Der internationale Wettbewerbsdruck erhöhte sich. Für viele deutsche Unternehmen wurde es angesichts hoher Arbeitskosten schwer, rentabel zu bleiben und mitzuhalten. Die Tarifautonomie stellte sich für sie zunehmend als Wettbewerbsnachteil dar. Die Konsequenz: Die Lohnkonkurrenz in inländischen lohnintensiven Branchen wie der Bauwirtschaft verschärfte sich, gleichzeitig verlagerten viele Firmen ihre Standorte ins kostengünstige Ausland. Zudem waren immer weniger Unternehmen bereit, sich einer Tarifbindung zu unterziehen und Flächentarifverträge anzuwenden. 

Es gab in jenen Jahren viel Kritik an der Reformfähigkeit der Tarifvertragsparteien, über eine dezentrale Organisation der Lohnfindung wurde heftig diskutiert, die Stärkung der Betriebsautonomie stand im Raum, manche Branchen und Betriebe sollten neu justiert werden, sogar von einem kompletten Neuanfang der gesamten Systeme war die Rede. Die öffentliche Debatte über die Tarifautonomie war scharf – und man könnte sagen, sie hält bis heute an. Eines jedoch wurde nie infrage gestellt: Tarifbindung galt immer als Garant für faire Löhne.

Die Legitimität von Tarifautonomie

Was bedeutet nun Tarifautonomie? Dem Autorenteam zufolge werden durch sie Arbeitsentgelte und Arbeitsbedingungen selbstbestimmt durch die Tarifvertragsparteien geregelt, und zwar unbeeinflusst von Dritten, insbesondere dem Staat. Um Einflüsse und Wirkung der Tarifautonomie zu zeigen, ist das vorliegende Buch in vier Themenblöcke eingeteilt. Zunächst in die „Struktur und Entwicklung der Tarifbindung“, dann in die „Legitimation der Tarifautonomie“. Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Tarifautonomie stets gegen erheblichen Widerstand des Staates erkämpften und die Tarifvertragsparteien ihre Legitimation „von unten“ durch ihre Mitglieder und nicht „von oben“ durch den Staat erhielten und noch heute erhalten. Im dritten Themenblock „Die Legitimität von Tarifautonomie“ stellen die Autoren dar, wodurch politische Debatten über Tarifautonomie ausgelöst werden und wie der Staat darauf reagiert. Zuletzt stellen sie Konzepte vor, die eine Steigerung der Organisationsrate auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite und damit eine Stärkung der Tarif-„Autonomie“ erwirken sollen.

Wichtig ist es den Autorinnen und Autoren, den Unterschied zwischen der Legitimation der Tarifautonomie und ihrer Legitimität zu verstehen. „Legitimität ist weniger als Rechtsmäßigkeit, sondern als Zweckmäßigkeit zu verstehen“, schreiben sie, „denn neben der Legalität ihrer Grundlagen muss sich die Tarifautonomie durch den Glauben an die Zweckmäßigkeit ihrer Existenz legitimieren.“ Es muss also immer wieder neu kritisch hinterfragt werden, ob Tarifautonomie vorteilhafte Ergebnisse hervorbringt – zum Beispiel durch „angemessene Arbeitsbedingungen bei hohem Beschäftigungsstand oder die Befriedung von Konflikten zum Schutz des Gemeinwohls“. Die Legitimität der Tarifautonomie ist demnach stets an ihre Effektivität geknüpft.

Immer wieder gab und gibt es Debatten über die Legitimation und die Legitimität von Tarifautonomie. Ihre gesellschaftliche Akzeptanz war und ist vor allem dann besonders auf die Probe gestellt, wenn die Bürgerinnen und Bürger anfangen, unter ausufernden Tarifkonflikten zu leiden, oder neue Tarifentwicklungen und die damit verbundenen betriebs- und volkswirtschaftlichen Folgen als Hauptursache für mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Unternehmen und des ganzen Landes ausgemacht werden.

Versuche, die Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien einzuschränken, gab es seit 1918. Nie waren die Versuche wirklich erfolgreich. Heute, hundert Jahre später, scheint jedoch die Attraktivität des Systems zu schwinden. Zwar unternahm in den vergangenen Jahrzehnten die Politik mehrere Versuche, der abnehmenden Tarifbindung entgegenzuwirken – zum Beispiel durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Doch immer mehr sind sinkende Mitgliederzahlen bei Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften zu beklagen und Erosionserscheinungen bei Tarifvertragssystemen zu erkennen. Das Autorenteam schlägt eine andere Lösung vor: Sollte sich die Politik entschließen, erneut Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie zu ergreifen, müssten diese idealerweise bei der Attraktivität der Mitgliedschaft ansetzen. Dies sei der einzig erfolgversprechende Weg, die auf der mitgliedschaftlichen Legitimation beruhende Tarifautonomie dauerhaft zu stärken.

Fazit

Die Autoren hoffen, dass die Erkenntnisse ihres Buches auch in zukünftigen Debatten über die Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie beherzigt werden. Ihre Forderungen: Tarifvertragsparteien soll es natürlich weiterhin möglich sein, Entgelte und Arbeitsbedingungen selbstbestimmt zu regeln. Und: Um die Tarifautonomie auch in die nächsten Jahrzehnte zu retten, muss alles versucht werden, die Menschen wieder für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu begeistern.

Clemens Höpfner, Hagen Lesch, Helena Schneider, Sandra Vogel: Tarifautonomie und Tarifgeltung – Zur Legitimation und Legitimität der Tarifautonomie im Wandel der Zeit. Dunker & Humblot, Berlin 2021

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