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Not kennt (k)ein Gebot? – Teil 2: Zur Notlagenregelung der Schuldenbremsen der Länder

Der erste Teil des Beitrags hatte sich auf die Bundesregelung und ihren praktischen Vollzug im Zusammenhang mit der Aufnahme von Notlagenkrediten fokussiert. Dieser zweite Teil nimmt die Länderebene in den Blick. Überraschende Erkenntnis: Die Mehrzahl der Bundesländer ist weniger restriktiv als der Bund. Und: Generationengerecht sind die meisten Tilgungspläne nicht.

Aufgrund ihres landesverfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraums unterscheiden sich die Notlagenregelungen der Länder in ebenjenen Punkten, die auf Bundesebene im Art. 115 GG gefasst sind. Das Hauptaugenmerk dieses Beitrags wird also darauf liegen, welche Zustimmungsquoren die Länder voraussetzen und wie die Tilgungsmodalitäten ausgestaltet sind.

Verschiedene Mehrheitserfordernisse

In Tabelle 1 werden die Regelungsinhalte anhand dieser beiden Kriterien skizziert. Bezüglich der Regelungen des Zustimmungsquorums fällt auf, dass die Mehrzahl der Bundesländer hier weniger restriktiv als der Bund ist. Es reicht vielfach die einfache Mehrheit, um eine Notlage festzustellen, wohingegen auf Bundesebene eine absolute Mehrheit erforderlich ist.

Tabelle 1
Quelle: Eigene Darstellung nach den jeweiligen Landesverfassungen, Landeshaushaltsordnungen und ggf. relevanten Einzelgesetzen.

Der Bundesregel entsprechen vier Länder: Baden-Württemberg, Bremen, Niedersachsen und das Saarland. Baden-Württemberg und Niedersachsen stellen hier aber eine Besonderheit dar. Baden-Württemberg unterscheidet in Art. 84 (3) seiner Landesverfassung zwischen einer „Naturkatastrophe“ und einer „außergewöhnlichen Notsituation“. Für beide Phänomene müssen je eigene Mehrheiten für erfolgreiche Beschlüsse geschmiedet werden. Naturkatastrophen sind mit einer absoluten Mehrheit festzustellen. Außergewöhnliche Notsituationen hingegen sind bei der Anwesenheit von mindestens zwei Drittel der Mitglieder des Landtags mit Zweidrittelmehrheit festzustellen, mindestens jedoch mit der absoluten Mehrheit. Diese Regelung führt mit den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen im baden-württembergischen Landtag dazu, dass die Regierungsfraktionen auf drei Stimmen der Opposition angewiesen wären, sollten alle Mitglieder des Landtages bei einer Beschlussabstimmung zur Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation anwesend sein. Damit soll verhindert werden, dass eine Regierung über eine Notlagenerklärung eigene politische Programme und Ziele schuldenfinanzieren kann (Landtag von Baden-Württemberg 2020: 6884).

Auch Niedersachsen kennt zwei unterschiedliche Zustimmungsquoren, die von der geplanten Kreditaufnahme abhängen. Grundsätzlich reicht ein Beschluss mit absoluter Mehrheit. Sofern die geplante Notlagen-Kreditaufnahme jedoch 0,5 Prozent des zuletzt festgestellten Haushaltsvolumens übersteigt, ist nach Art. 71 (4) S. 2, 1. Alt. der Landesverfassung eine Zweidrittelmehrheit notwendig. [1]

Hamburg und Schleswig-Holstein haben jeweils eine Zweidrittelregelung in ihrer Landesverfassung verankert. Allerdings mit dem Unterschied, dass die hamburgische Regelung lediglich zwei Drittel der abgegebenen Stimmen verlangt, wohingegen die schleswig-holsteinische Regelung in jedem Fall zwei Drittel der Mitglieder des Landtages fordert. Damit ist die Regelung in Schleswig-Holstein die vergleichsweise restriktivste.

Überwiegend keine generationengerechte Tilgung

Die Bundesregelung ist hinsichtlich des Zeithorizonts zur Rückführung der Notlagenkredite mit „angemessener Zeitraum“ sehr abstrakt formuliert, ist „angemessen“ doch ein überaus dehnbarer Begriff. Die überwiegende Mehrheit der Länderregelungen deckt sich damit. Diese Abstraktheit lediglich variierend spricht der Art. 65 (2) S. 3 der Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommerns von einem „bestimmten Zeitraum“. Etwas konkreter, aber dennoch verhältnismäßig abstrakt spricht der § 4 (2) S. 1 Art. 117-G des Landes Rheinland-Pfalz von einer „konjunkturgerechten Tilgung“.

Sehr konkret regeln hingegen Sachsen und Thüringen die Laufzeit der Tilgung von notlagenbedingten Krediten. Beide Länder haben in ihren jeweiligen Landeshaushaltsordnungen eine Laufzeit von höchstens acht Jahren festgelegt.

Abbildung
Quelle: Eigene Darstellung nach Salvatore Barbaro (2022: 82).

Wie in der Abbildung ersichtlich, wird erwartungsgemäß der Terminus „angemessener Zeitraum“ in den Ländern unterschiedlich politisch umgesetzt. Er umfasst eine Zeitspanne von insgesamt 30 Jahren, angefangen bei Rheinland-Pfalz mit einem Tilgungszeitraum von 20 Jahren bis hin zu Nordrhein-Westfalen mit einem Tilgungszeitraum von 50 Jahren. Daraus erwachsen zwei Probleme:

Zum einen kann bei Tilgungszeiträumen zwischen mehr als 30 und 50 Jahren mit guten Gründen bezweifelt werden, dass die Generationengerechtigkeit gewahrt bleibt. Ausgehend von einem angenommenen Generationenabstand von 30 Jahren werden zumindest die Tilgungsverpflichtungen der Notlagenschulden der Länder Brandenburg, Bremen, Hessen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen bis auf die nächste Generation gestreckt. Dementsprechend tragen künftige Generationen also zum Teil die Lasten für Leistungen, von denen gegenwärtige Generationen profitieren.

Zum anderen vergrößert sich durch lange Tilgungszeiträume die Gefahr dessen, was Salvatore Barbaro als „Plateau-Effekt“ bezeichnet (2022: 75 f.). Je länger die Tilgung von Krediten gestreckt wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwaige erneut aufzunehmende Notlagenkredite wegen zwischenzeitlich auftretender Krisen auf die noch zu tilgenden vormaligen Notlagenkredite aufsetzen. Die Ausnahmeregelung darf sich also nicht nur auf die Seite der Mittelbeschaffung beschränken, sondern muss auch auf die Seite der Mittelrückführung bezogen werden. Notlagenkredite dürfen aufgrund der Gefahr des Plateau-Effekts und zum Wohle der Generationengerechtigkeit nicht wie herkömmliche Kredite getilgt werden, sondern sollten strengen Tilgungsregelungen unterworfen sein.

Fragwürdige Rücklagenbildung

Ein Blick auf die tatsächlich in Anspruch genommene Ausnahmeregelung der Länder in den Corona-geprägten Haushaltsjahren 2020 bis 2022 offenbart zunächst, dass im Jahr 2020 ausnahmslos alle Länder eine Notlage aufgrund der Pandemie erklärt haben. Allerdings ist für Bremen darauf hinzuweisen, dass der Haushaltsabschluss 2020 positiver ausfiel als erwartet. Dementsprechend hat Bremen von der Möglichkeit, in diesem Jahr notlagenbedingte Kredite aufzunehmen, keinen Gebrauch gemacht.

Tabelle 2
Quelle: Eigene Darstellung nach Daniel Buscher et al. (2022: 97 ff.), Stabilitätsberichte 2021 und 2022 der Länder an den Stabilitätsrat, sowie den Haushaltsplänen der Länder.

Die Tatsache, dass die Länder im Jahr 2020 einheitlich, ab 2021 jedoch uneinheitlich bezüglich der Erklärung der Notlage vorgegangen sind, deutet auch auf den unterschiedlichen praktischen Vollzug der Ausnahmeregelung auf Länderebene hin. So haben einige Länder die Möglichkeit zur notlagenbedingten Kreditaufnahme 2020 genutzt, um insbesondere zum Teil eigens dafür geschaffene Sondervermögen mit großen Volumina zu füllen und sich damit finanzielle Spielräume für fortfolgende Jahre zu sichern. Die Nettokreditaufnahme der Kernhaushalte der Ländergesamtheit war im Jahr 2020 höher als ihr Finanzierungsdefizit. Dies deutet nach Wolfgang Förster auf verfassungsrechtlich nicht unproblematische „Vorratskreditaufnahme[n]“ (2022: 84) in einigen Ländern für das Jahr 2021 ff. hin. Im Jahr 2022 sind weitere Länder dazu übergegangen, von einer wiederholten Erklärung der Notlage abzusehen.

Wirken Schuldenbremsen auch in der Notlage?

Aufgrund des strikten Verbots einer strukturellen Neuverschuldung sind die Länderschuldenbremsen bereits qua Regel enger gefasst als die Bundesregel. Bezogen auf die hier behandelten Ausnahmeregelungen führt das dazu, dass die Länder grundsätzlich ihre aufgenommenen Notlagenkredite tatsächlich zurückführen müssen. Der Bund hingegen simuliert lediglich eine Tilgung, indem er innerhalb des Tilgungszeitraums den erlaubten Rahmen zur Nettokreditaufnahme um den Tilgungsbetrag vermindert.

Allerdings hat die Analyse auch gezeigt, dass einige Länder infolge der Streckung von Tilgungszeiträumen teilweise weit über einen Generationenabstand hinaus und durch die Bevorratung von Notlagenkrediten Wege gefunden haben, die Wirksamkeit der Schuldenbremse in Teilen einzuschränken. Deshalb sollte die Tilgungsdauer zum Wohle der Generationengerechtigkeit auf maximal 30 Jahre begrenzt werden.

Hinsichtlich der Zustimmungsquoren zur Herbeiführung eines erfolgreichen Notlagenbeschlusses herrscht eine babylonische Sprachverwirrung. Eine vereinheitlichte Verschärfung der Quoren auf die Zweidrittelmehrheit wie aktuell in Schleswig-Holstein würde künftig verhindern, dass die Erklärung der Notsituation durch allzu laxe Mehrheitsbestimmungen zur fiskalischen Flankierung von Regierungsprogrammen missbraucht wird.

Insgesamt zeigen die haushaltspolitischen Erfahrungen der letzten Jahre, dass es auch mit und gerade aufgrund der Schuldenbremse möglich ist, angemessen auf derartige Ausnahmesituationen reagieren zu können. Erst der Abbaupfad, der im Vorfeld der Krisen bereits mit ihr beschritten wurde, hat überhaupt entsprechende Gestaltungsspielräume geschaffen. Während sowie nach der Krise verhindert die Schuldenbremse, dass überbordende Kreditaufnahmen die Stabilität der Staatsfinanzen beeinträchtigen. Gleichwohl enthält die bisherige Praxis weitere Potenziale, die Schuldenbremse effektiver zu gestalten und die Regelbindung der Haushaltspolitik damit gerade im Nachklang von Krisen zu stärken. Das Gelegenheitsfenster dafür steht jetzt offen und sollte genutzt werden, um für künftige Krisen gewappnet zu sein.


Dieser Blogpost basiert auf der Studie „Die Notlagenregelungen in den Schuldenbremsen der Länder – eine Bestandsaufnahme“.


Literatur

Barbaro, Salvatore. 2022. „Die schleichende Aushöhlung der Schuldenbremse: Die Tilgungspläne des Bundes und der Länder.“ in: Martin Junkernheinrich/Stefan Korioth/Thomas Lenk/Henrik Scheller/Matthias Woisin (Hg.). Jahrbuch für öffentliche Finanzen 02/2022. Stuttgart: Berliner Wissenschafts-Verlag: 73–86.

Buscher, Daniel/Alexander Flachs/Wolfgang Förster/Ariane Gase/Dirk Hengstenberg/Thomas Herold/Anke Hoestermann/Maike Kilian/Enrico Krönert/Corinna Manig/Barbara Meyer/Torsten Mietko/Christian Pfeil/Ulf Meyer-Rix/Beate Schirwitz/Birgitta Schönefeld/Anja Ranscht-Ostwald/Christian Thater/Matthias Woisin. 2022. Länderfinanzbericht 2021. In: Junkernheinrich, Martin/Stefan Korioth/Thomas Lenk/Henrik Scheller/Matthias Woisin (Hg.). Jahrbuch für öffentliche Finanzen 01/2022. Stuttgart: Berliner Wissenschafts-Verlag: 13-266.

Förster, Wolfgang. 2022. Vergleichende Übersichten von 2008 bis 2021. In: Junkernheinrich, Martin/Stefan Korioth/Thomas Lenk/Henrik Scheller/Matthias Woisin (Hg.). Jahrbuch für öffentliche Finanzen 01/2022. Stuttgart: Berliner Wissenschafts-Verlag: 75-96.

Landtag von Baden-Württemberg. 2020. Protokoll der 111. Sitzung. Pl.pr. 16/111. Stuttgart: Landtag von Baden-Württemberg. https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Plp/16_0111_06022020.pdf. Zugriff am 22.03.2023.


Fußnoten

[1] Das Haushaltsvolumen 2021 betrug rd. 35,9 Mrd. Euro. Angenommen Niedersachsen hätte auch für 2022 die Notlage erklärt und also geplant, Notlagenkredite aufzunehmen, so wäre bei einer Kreditaufnahme von mehr als 179,5 Mio. Euro die Zweidrittelmehrheit erforderlich gewesen.


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