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Von der Leyens Gespensterdebatte

Ursula von der Leyen bestimmt mit ihrem Projekt „Zuschußrente“ die innenpolitische Spätsommerloch-Debatte. Sie flankiert ihr Anliegen mit einer Angstkampagne vor der drohenden Altersarmut selbst eines Durchschnittsverdieners.

Mit sozialpolitischem Alarmismus schlägt man schnell Wellen der Empörung in Deutschland, erst recht, wenn eine amtierende Bundesministerin für Arbeit und Sozialordnung mit vermeintlich objektiven Horrorzahlen jongliert und so gesellschaftlichen Druck in der Rentenpolitik organisiert.

Doch wie ist es um das gesetzliche Rentenniveau denn heute tatsächlich bestellt? Als im Jahr 2004 durch den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenversicherung eine Niveauabsenkung begann, rechneten die Experten mit einer Absenkung des Rentenniveaus vor Steuern von damals 51% auf 43% im Jahr 2030. Doch die Entwicklung der vergangenen Jahre stellt sich deutlich anders dar. Seit 2005 musste die Bundesregierung regelmäßig ihre Annahmen für das künftige Rentenniveau nach oben anpassen. Denn der Nachhaltigkeitsfaktor bremst nur dann die jährliche Rentenerhöhung, wenn die Zahl der Rentner schneller steigt als die Zahl der beitragspflichtigen Arbeitnehmer.

Da die Arbeitsmarktentwicklung der vergangenen Jahre weit besser war als erwartet und sich die Beitragszahler stärker vermehrten als die Rentner, sorgte der Nachhaltigkeitsfaktor sogar dafür, dass die Renten stärker stiegen als die Löhne. Dieser relative Rentenanstieg durch den Nachhaltigkeitsfaktor betrug in den Jahren 2007 und 2008 jeweils 0,2 Prozentpunkte, im Jahr 2009 0,3 Prozentpunkte, im aktuellen Jahr sogar 2,1 Prozentpunkte. Im Jahr 2009, dem letzten Bundestagswahljahr, verschonte die Bundesregierung die Rentner sogar vor einer eigentlich notwendigen Rentenkürzung. Mit dieser Maßnahme zu Lasten der Beitragszahler stieg damals kurzzeitig das aktuelle Rentenniveau von 50,5 auf 52 Prozentpunkte.

Jahr für Jahr musste die Bundesregierung deshalb ihre Prognosen für das erwartete künftige Rentenniveau vor Steuern nach oben korrigieren. Ein Jahr nach der letzten Rentenreform – im Jahr 2005 – ging sie davon aus, dass das Rentenniveau bis zum Jahr 2019 auf 46,3% sinken werde. Die bisher letzte Prognose im Rentenbericht von 2011 geht bereits von 47,8% Rentenniveau im Jahr 2019 aus – das sind drei Prozent mehr, als bei der Verabschiedung der Rentenreform erwartet wurden.

Von der Leyens Alarmismus schadet deshalb der gesetzlichen Rentenversicherung in einer Zeit, in der praktisch alle kapitalgedeckten Versorgungssysteme massive Probleme bekommen, ihre Renditeversprechungen zu erfüllen. Und sie leugnet mit einer entscheidenden Grundannahme ihrer Horrorzahlen schlicht die Folgen der Demographie. Woher bitte, Frau von der Leyen, nehmen Sie die Chuzpe, die Zahl von 35 Versicherungsjahren als Maßstab für das künftige Rentenniveau zu nehmen? Wer länger lebt, muss auch länger arbeiten, um sich im Alter halbwegs den gewohnten Lebensstandard zu sichern. Alle Produktivitätsfortschritte werden daran nichts ändern. Das war sogar zwischen Sozial- und Christdemokraten in der Großen Koalition schon einmal Konsens, als die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre beschlossen wurde.

Statt teure Rentenzuschuss-Illusionen bei Langzeitbeschäftigten zu nähren, sollte die Bundesarbeitsministerin lieber auf die in der Tat alarmierenden Armutsrisiken hinweisen, die in unserer Gesellschaft herrschen: Kinder- und Jugendarmut vor allem bei allein Erzogenen, ein erschreckend niedriges Bildungsniveau und die verbreitetste Armutsfalle schlechthin namens Migrationshintergrund. Hier ist gesellschaftliche Prophylaxe gefordert: durch erstklassige Kitas und ein Bildungssystem, das nicht nach der sozialen Herkunft selektiert, sondern die Lern- und Wissbegier jedes Kindes fördert.