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Damit alles bleibt, muss alles anders werden

Hans-Werner Sinn: Die Target-Falle – Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012, Hanser Wer will schon hören, wie schlimm es wirklich um unser Geld bestellt ist?! Hans-Werner Sinn schert sich nicht drum. Was Politiker verschweigen, deckt er schonungslos auf: Das Zahlungssystem „Target“ reißt Europa in den Abgrund: Entweder die reichen Länder retten die Euro-Zone bis zum Sankt-Nimmerleinstag oder wir müssen das ganze System ändern.

Es ist nicht einfach, Leuten zuzuhören, die nicht nur gerne unbequem sind, sondern in ihrer Besserwisserei auch noch unbelehrbar scheinen. Erst vor wenigen Wochen haben sich Hans-Werner Sinn und ein paar Gesinnungsgenossen mit ihrer Kritik an den Beschlüssen des EU-Gipfels zur Eurokrise nicht gerade Freunde in Deutschland gemacht. Doch die Buhrufe und Gegenschläge prallten an Professor Sinn galant ab wie kaltes Wasser an Super-Imprägnier-Konzentrat. Sinn ist kein Zyniker. Er hat das nicht nötig. Denn er weiß viel. Mit seiner Target-Falle zielt er nun treffsicher ins Herz aller Euro-Optimisten. Es ist ein gescheites Buch, bei dem einem nach der Lektüre schwindelt werden kann, wenn es stimmt, was Sinn auf rund 400 Seiten mit reichlich Quellen und Grafiken recherchiert, kombiniert und analysiert hat.

„Target“ heißt für den Autor das Problem Europas. Es ist die kriegerisch wirkende Abkürzung für ein Problem, dass in seiner gesamten Letternlänge für noch mehr Verwirrung sorgt und deswegen nach einmaligem Lesen schnell wieder vergessen werden darf: Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System – Target eben. Es ist der Name des Zahlungssystems, über das die internationalen Zahlungen zwischen Banken im Euroraum abgewickelt werden. Target transferiert und misst die Geldüberweisungen zwischen den nationalen Notenbanken der Euroländer aufgrund von internationalen Überweisungsaufträgen, die private und öffentliche Finanzinstitute ihren jeweiligen Geschäftsbanken geben, schreibt der Autor. So können beispielsweise die Griechen weiterhin Waren bei ihren reichen EU-Nachbarn bestellen – das Geld wird von der eigenen staatlichen Notenbank garantiert. Kleiner Haken: Es muss auch ökonomisch für alle Beteiligten funktionieren.

Insgesamt gibt es heute rund ein Billionen Euro Target-Kredite im Euro-Raum, also Forderungen an das EZB-System, denen Verpflichtungen von Spanien, Italien, Griechenland, Irland, Portugal oder Zypern gegenüberstehen. Allein bei der Bundesbank sind Target-Forderungen in Höhe von 727 Milliarden Euro aufgelaufen. Sinn rechnet vor: Wenn die Schuldner nicht zurückzahlen können, muss man die Forderungen abschreiben. Die Güter und Vermögensobjekte, die mit dem Target-Geld in den Kernländern erworben wurden, kommen nie wieder zurück. Bei einem Konkurs oder Austritt der Krisen-Länder aus der Euro-Zone würde Deutschland 43 Prozent seiner Forderungen verlieren, also 416 Milliarden Euro. Wenn der Euro zerbricht, wäre sämtliche 727 Milliarden Euro futsch – ein Verlust, der jeden Bürger betreffen würde, ist sich Sinn sicher.

Das Target-System sei vor allem aber deswegen eine Falle, weil die Bundesbank nicht die Möglichkeit habe, ihre Target-Forderungen einzutreiben. Getilgt würden die Kredite nur dann, wenn Deutsche wieder neue Kredite ins Euro-Ausland vergeben oder Anlageobjekte und Güter dort kauften. Tun sie das aus Angst oder sonstigen Gründen nicht, bleiben die Forderungen bis zum Sankt Nimmerleinstag stehen und zerfleddern in der Inflation. Die EZB habe den Krisenländern eine goldene Kreditkarte mit unbegrenztem Überziehungskredit gewährt, ärgert sich Sinn. Damit bereits bestehender Kredit zurückgezahlt werden kann, müsse nun die Platin-Karte her.

Das Schlimmste Szenario ist für ihn allerdings der Zerfall der Euro-Zone. Seine Hoffnung auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ will er nicht aufgeben. Sinn plädiert eindringlich für härte Budgetbeschränkungen und für klare Strafzinsen, wenn Target-Salden auftreten. Als Sicherheiten schlägt er staatliche Pfandleihen vor, die mit Gold oder Immobilien unterlegt sind. Um einem möglichen Austritt von Krisenländern aus der Euro-Zone das Stigma der dauerhaften Trennung zu nehmen, schlägt er die Bildung einer „offenen Währungsunion“ vor. Die Länder erhielten dort eine assoziierte Mitgliedschaft mit Rückkehroption. In jedem Fall aber müsse die Bundesregierung Neuverhandlungen der EU-Verträge verlangen und sich endlich für eine verbindliche Vertragstreue einsetzen.

So klar und teils auch wahr lässt sich eben sprechen, wenn man am Katheder steht. In den europäischen Parlamenten weht ein anderer Wind. Dort dürfte Sinn weiter auf taube Ohren stoßen.