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Deutschland wird älter, bunter und besser

Die Bundesrepublik wird nicht nur immer älter, sie liegt auch bald im Sarg. Solche wie Mantras wiederkehrenden Vorurteile ärgern Thomas Straubhaar. Gleich zehn Mythen des demografischen Wandels hat der Ökonom ausgemacht. Dass die Bundesrepublik nicht ausstirbt, liegt für ihn vor allem an den noch ungenutzten Chancen und guten Perspektiven, die eben genau jene gefürchtete Alterung mit sich bringt. Thomas Straubhaar: Der Untergang ist abgesagt – wider die Mythen des demografischen Wandels, edition Körber-Stiftung, Hamburg 2016

Der Untergang ist abgesagtDie Angst geht schon länger um. Die Angst vor dem demografischen Wandel. Deutschland werde allmählich von einem gewaltigen Alters-Tsunami hinweggespült, die Vergreisung des Landes sei unausweichlich, die Nägel für Deutschlands Sarg bereits geschmiedet. Falsch! Irrtum! Sagt Thomas Straubhaar. Für ihn ist es an der Zeit, die typischen demografischen Mythen als wenig stichhaltige Vorurteile zu entlarven. Denn: „Das Problem ist nicht der demografische Wandel. Die Angst vor dem demografischen Wandel ist das Problem. Angst lähmt Menschen und lässt sie reflexartig an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen sich festklammern, die in der Tat nicht zukunftstauglich sind.“ Für Straubhaar, Direktor des Europa-Kollegs Hamburg und bis 2014 Leiter des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Instituts, haben die Alten von morgen „mit ihren Großeltern etwa so viel gemeinsam wie das Telefon der 1950er Jahre mit dem Smartphone von heute.“

Am Fachkräftemangel sind wir selbst schuld

Allein schon aufgrund medizinischer Versorgung und Technologie sowie größerer Mobilität hätten die Alten von heute weitaus bessere Möglichkeiten, einen angenehmen und längeren Lebensabend zu verbringen, als ihre Vorgängergenerationen. Zweifellos werden Alterung und zunehmende Vielfalt der Bevölkerung sowie die Flucht vom Land in die Stadt die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verändern. Deutschland wird älter, vielfältiger, bunter und auch besser werden. „Viele Befürchtungen über die makroökonomischen Folgen des demografischen Wandels erweisen sich […] bei genauem Hinsehen als Behauptungen, deren Zutreffen alles andere als gesichert ist“, erklärt Straubhaar. Zum Beispiel der ständig beklagte Fachkräftemangel. Er ist „nicht gottgeben, sondern menschengemacht“. Der Fachkräftemangel ist die Folge von Führungsmangel. „Er besteht aus dem Fehlen einer Beschäftigungskultur, die dem 21. Jahrhundert entspricht“, sagt Straubhaar. Seine Forderung: Um den Mangel an Fachkräften erfolgreich zu beheben, werden immer noch zu wenig die Potenziale bei Frauen, Alten und Menschen mit Migrationshintergrund gesehen und genutzt. Die aktuelle starke Zuwanderung werde die demografische Entwicklung in Deutschland noch weit in die Zukunft verändern. Und deswegen gelte: „Der Untergang ist abgesagt. So rasch also kann die Realität die Richtung ändern“, meint Straubhaar.

Europa braucht eine gemeinsame Migrationspolitik

Die Zuwanderung ist für den Ökonom ein wichtiger Faktor für Zukunft Deutschlands. Nach Angaben des Mikrozensus lebten in Deutschland im Jahr 2013 etwa 15,9 Millionen Personen mit einem Migrationshintergrund. Das entsprach knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. 10,5 Millionen davon hatten eine eigene Migrationserfahrung. 5,4 Millionen waren in Deutschland geborene Kinder zugewanderter Eltern. Angesichts der aktuellen Flüchtlings-Krise die „Grenzzäune höher“ und „Einwanderungskontrollen schärfer“ zu machen, lehnt Straubhaar ab. Das sei der falsche Ansatz. Flüchtlingsströme müssten verhindert werden, bevor sie entstehen. „Der Kampf gegen die Flüchtlingstragödien beginnt in den Herkunftsgebieten der Zwangsvertriebenen und nicht auf den seeuntauglichen Schrottschiffen des Mittelmeers.“ In der Praxis hieße das: den kriminellen Diktatoren im Nahen Osten und Afrika die politische Gefolgschaft verweigern, die wirtschaftliche Unterstützung entziehen und die Waffenlieferungen einstellen. Die Flüchtlingskrise zeige deutlich, dass die Zeit für nationale Migrationspolitik in Europa abgelaufen sei. „Deutschland und Europa müssen schnellstmöglich nach einer Vermeinschaftung der Migrationspolitik streben. Sie sollte insbesondere auch die Flüchtlingspolitik abdecken.“ Und die Zuwanderung muss steuerbar bleiben. Denn Vielfalt ist zwar gut, doch zu viel Vielfalt ist schlecht. Straubhaar: „Dadurch steigen die Transaktionskosten der Kommunikation, Verständigung und des Informationsaustausches, die Verhaltenssicherheit sinkt und das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl wird schwächer.“

Als Konsequenz aus der immer bunteren Gesellschaft in Deutschland erwartet der Autor von Politik und Gesellschaft langfristig eine neue Definition, was die Bevölkerung in der Bundesrepublik  zusammenhält. Ebenso notwendig wird sein: „Menschen mit Migrationshintergrund werden in jeder Beziehung – politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich – mitbestimmen wollen, was deutsch ist und was Deutschland ausmacht.“

Weniger Menschen – mehr Lebensqualität

Die Schrumpfung Deutschlands muss die Lebensqualität in Deutschland nicht schmälern. Im Gegenteil, meint Straubhaar. Denn die zurückgehende Bevölkerungszahl bedeutet nicht unbedingt, dass auch die Anzahl der Haushalte als ökonomische Wirtschaftseinheiten abnimmt (Ein Privathaushalt ist eine aus mindestens einer Person bestehende unabhängige Wirtschaftseinheit. Besteht diese Einheit aus mindestens zwei Personen handelt es sich um einen Mehrpersonenhaushalt.) Es kann sein, dass in Zukunft nur die Zahl der pro Haushalt lebenden Menschen zurückgeht, meint Straubhaar. Dann würden nur noch ein oder zwei Personen und nicht mehrere einen gemeinsamen Haushalt bilden. Straubhaar: „Eine zahlenmäßig kleiner werdende  Bevölkerung kann zu ökonomisch immer wohlhabenderen Menschen führen. Denn pro Kopf wird für alle mehr von allem verfügbar sein.“ Bleibt zu hoffen, dass wir bei allem, was uns dann als Vorteil zur Verfügung steht – mehr Platz, weniger Stau, kleinere Schulklassen und größere Zeitbudgets für weniger Einzelfälle – auch noch einen ausgezeichneten Arbeitsmarkt und viele gut bezahlte Jobs zur Auswahl haben, um die Rentenkassen zu füllen, Krankenversicherungen zu bezahlen, den Wohlstand zu erhalten und das Leben unter wenigen auch wirklich zu genießen.

Fazit

Straubhaar hat nicht die Absicht, neutral zu sein. Wie gut! Endlich wieder ein Autor, der gegen landläufige Meinungen konsequent argumentiert. Schluss mit dem Gerede vom Alterungs-Tsunami – diese These macht nicht nur Spaß, sondern ist nach der Lektüre des spannend geschriebenen Buches wirklich überlegenswert. Straubhaars Absage an den demografischen Untergang stößt eine Diskussion an, die uns von Zukunftsängsten zu neuen Ansätzen und zu hoffentlich bald mehr erfolgsversprechenden Lösungen führt.

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