Soziales

Weniger Armut durch mehr Teilhabe

Die Diskussion der Armutsproblematik in Deutschland durchzieht die Gesellschaft seit jeher. Eine sachgenaue Analyse der Kennzahlen ergibt ein ausgewogeneres Bild und ermöglicht konkrete Handlungsempfehlungen. Prof. Dr. Michael Hüther mit einer ausführlichen Analyse zur Armutsgefährdung in Deutschland.

Regelmäßig erscheinen Berichte über die Armutsentwicklung in Deutschland, die vor allem ein sehr alarmistisches Bild zeichnen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass in der Bevölkerung die mehrheitliche Wahrnehmung herrscht, die Situation würde kontinuierlich schlechter werden. Entsprechend einer Umfrage im Rahmen des Fünften Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung vermuten beispielsweise 44 Prozent der Bundesbürger, dass der Anteil armer Menschen zwischen 2010 und 2015 stark zugenommen hat, weitere 40 Prozent vermuten, dass er etwas zugenommen hat.

Entwicklung der Armut

Tatsächlich bewegt sich die relative Einkommensarmut nach einem erkennbaren Anstieg im Zeitraum um die Jahrtausendwende im letzten Jahrzehnt auf einem stabilen Niveau. Seit 2012 ist wiederum ein leichter Anstieg erkennbar, der jedoch vornehmlich auf die gestiegene Migration in diesem Zeitraum zurückgeht und sich schwerlich skandalisieren lässt. Aus der Betrachtung der relativen Einkommensarmut lassen sich indes keine allgemeinen Wohlstandszuwächse ablesen, da sie sich per Definition auf konstantem Niveau bewegt, wenn beispielsweise alle Einkommensgruppen relativ in gleichem Maße von Einkommenszuwächsen profitieren. Tatsächlich ist die Armutsgefährdungsschwelle zwischen 2005 und 2016 auf Basis der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) preisbereinigt um knapp 10 Prozent gestiegen. Auf Datengrundlage des Mikrozensus sind es bis 2018 sogar knapp 18 Prozent. Bei der relativen Armutsgefährdungsquote handelt es sich daher vor allem um ein Maß für die Ungleichheit im unteren Einkommensbereich. Deutschland schneidet anhand dieses Kriteriums – wie auch bei Kennzahlen der Einkommensungleichheit – etwas besser ab als der Durchschnitt der EU-Staaten.

Quellen: SOEP v34; Eurostat; Amtliche Sozialberichterstattung auf Basis des Mikrozensus; Institut der deutschen Wirtschaft

Ein relativ betrachtet niedriges Einkommen begründet daher allenfalls eine Armutsgefährdung, ist aber nicht mit Armut gleichzusetzen. Der für seine Armutsforschung mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnete Armartya Sen definiert Armut als Mangel an Entfaltungsmöglichkeiten. Arm ist demnach beispielsweise, wer nicht die Voraussetzungen dafür hat, sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen, mobil zu sein oder Zugang zu Informationen zu haben. Aus den Dimensionen geringes Einkommen, materielle Entbehrungen, Unterbeschäftigung, niedriger Bildungsstand, Einschränkungen im Bereich Wohnung und Gesundheitsprobleme hat das IW einen multidimensionalen Armutsindex entwickelt. Diese Dimensionen werden auch in anderen Armutsanalyen, die den Ansatz von Sen operativ umsetzen, benutzt. Der Index zeigt auf, dass es in Deutschland und in Europa in den letzten zehn Jahren (2017 gegenüber 2008) durchaus nennenswerte Verbesserungen gegeben hat. Der Indexwert ist hierzulande über alle Dimensionen hinweg um 11 Prozent gesunken. Aktuell nimmt Deutschland unter 30 Ländern den siebten Platz ein. Besonders deutlich waren die Verbesserungen im Bereich der Unterbeschäftigung und der materiellen Deprivation.

Quellen: Eurostat; Institut der deutschen Wirtschaft

Als materiell depriviert gilt nach konventioneller EU-Definition, wer sich mindestens drei von neun Gütern des alltäglichen Gebrauchs aus finanziellen Gründen nicht leisten kann. Waren im Jahr 2007 in Deutschland noch 12 Prozent der Bevölkerung von materieller Deprivation betroffen – konnten sich also drei von neun Gütern nicht leisten –, reduzierte sich die Quote bis zum Jahr 2017 um ein Viertel auf 9 Prozent. Eine geringere Quote der materiellen Entbehrung erreichten unter den 28 EU-Staaten nur sieben Länder. Zu diesem Rückgang hat sicherlich auch die in Deutschland lang anhaltend gute wirtschaftliche Entwicklung beigetragen. Diese hat zusammen mit dem technischen Fortschritt auch dazu geführt, dass sich der Ausstattungsgrad mit langlebigen Konsumgütern deutlich verbessert hat.

Bei der teilhabeorientierten Perspektive verringert sich durch mehr Beschäftigung die Armut ganz unmittelbar, weil die Beteiligung am Erwerbsleben ein wichtiges Element gesellschaftlicher Teilhabe ist und Raum für die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten gibt. Gleiches gilt für die ebenfalls verbesserten Bildungsperspektiven und den rückläufigen Anteil Geringqualifizierter, denn mit einer soliden Bildung wird vieles verständlicher und interessanter. Erwerbstätigkeit und (geringes) Qualifikationsniveau sind aber auch wichtige Risikofaktoren, wenn wieder die relative Einkommensarmut in den Blick genommen wird. Es zeigt sich, dass sich die Gefahr der Einkommensarmut auf bestimmte Gruppen konzentriert und sich daher auch aus der tieferen Betrachtung relativer Einkommensarmutsgefährdung ähnliche politische Handlungsempfehlungen ableiten lassen wie aus der Analyse der materiellen Deprivation oder der multidimensionalen Armut.

Besonders armutsgefährdete Gruppen

Zu diesen gefährdeten Gruppen zählen nicht nur alleinerziehende Mütter und Väter, Arbeitslose oder Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch Familien mit vielen Kindern. Während die relative Einkommensarmutsgefährdungsquote für die Gesamtbevölkerung nach Berechnungen mithilfe des SOEP im Jahr 2016 bei 16,7 Prozent lag, fiel sie mit 36,8 Prozent für Alleinerziehende mehr als doppelt so hoch aus. Bei Familien mit drei und mehr Kindern lag die Quote bei 32,3 Prozent, bei Menschen mit Migrationshintergrund bei knapp unter 30 Prozent. Das weitaus größte Risiko tragen mit 64,3 Prozent die Arbeitslosen.

Quellen: SOEP v34; Institut der deutschen Wirtschaft

Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen fallen bei Betrachtung des bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens hingegen gering aus und spielen sich im Nachkommabereich ab. Das Risiko von älteren Menschen ist auf Basis des SOEP mit gut 12 Prozent weiterhin unterdurchschnittlich. Auch gehen bei Älteren Entbehrungen seltener auf finanzielle Gründe zurück. Die Verteilung der Armutsrisiken weicht somit deutlich von der Wahrnehmung der Bevölkerung ab: Zwei von drei Befragten vermuten ein besonders hohes Risiko in der Ruhestandsphase. Gleichwohl sind Altersrentner zunehmend in den Blick zu nehmen, da sie trotz ihres unterdurchschnittlichen Armutsrisikos zahlenmäßig bereits jetzt eine bedeutende Rolle für die Zusammensetzung der Armutsgefährdeten spielen.

Erwerbstätige weisen im Gegensatz zu den Arbeitslosen ein Einkommensarmutsrisiko von lediglich 10 Prozent aus, bei Vollzeitbeschäftigten liegt es bei unter 5 Prozent.

In Ostdeutschland lag das Einkommensarmutsrisiko im Jahr 2016 mit 22,5 Prozent auf SOEP-Basis deutlich über dem Wert von Westdeutschland mit 15,4 Prozent. Es gilt allerdings zu beachten, dass die Differenz im Mikrozensus im Jahr 2016 mit 3,4 Prozentpunkten erkennbar geringer ausfiel und inzwischen auf 2,5 Prozentpunkte gesunken ist. Hinzu kommt, dass im Osten das Preisniveau gut 5 Prozent niedriger ist als im Westen. Berücksichtigt man dies, gibt es zwischen Ost und West auf Basis des Mikrozensus kaum noch Unterschiede in der kaufkraftbereinigten Armutsgefährdungsquote.

Die Ostdeutschen sind danach per se keine besonders bedrohte Gruppe. Regional zeigt sich nach der Preisbereinigung vielmehr ein ausgeprägtes Stadt-Land-Gefälle mit sehr hohen Quoten in den Großstädten. Diese ergeben sich auch dadurch, dass in den Städten überdurchschnittlich viele Menschen aus den ohnehin im erhöhten Maße armutsgefährdeten Gruppen leben. In einigen ländlichen Teilen Ostdeutschlands, etwa in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, verbleiben jedoch auch preisbereinigt Gebiete mit hohen Armutsgefährdungsquoten.

Dauerhaftes Einkommensarmutsrisiko

Bei einem Blick auf die Dauer von ununterbrochenen Phasen der Einkommensarmutsgefährdung identifizieren wir ähnliche Risikogruppen: Während sich im Bundesdurchschnitt rund die Hälfte aller von Einkommensarmut gefährdeten Menschen bereits im Folgejahr daraus befreien kann, sind es unter den bedrohten Vollzeiterwerbstätigen bereits 70 Prozent. Bei den bedrohten Arbeitslosen liegt der gleiche Anteil hingegen bei 45 Prozent.

Die Unterschiede zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen werden über längere Zeiträume noch deutlicher: Geraten Vollzeiterwerbstätige in Einkommensarmut, haben 96 Prozent von ihnen spätestens nach den folgenden fünf Jahren wieder ein Einkommen oberhalb der Armutsgefährdungsschwelle erreicht. Von den Arbeitslosen, die in Einkommensarmut fallen, bleibt dagegen jeder Vierte auch in den fünf Folgejahren dauerhaft einkommensarm. Auch Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund sind länger von durchgehenden Phasen der Einkommensarmut betroffen.

Durchlässigkeit der Gesellschaft im Lebensverlauf

Die Aufstiegschancen im Lebensverlauf haben sich zuletzt verbessert. So ist die Aufstiegsmobilität aus dem untersten Einkommensviertel zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung wieder gestiegen und übertrifft die Werte aus der Nachwendezeit. Verblieben zwischen 1991 und 1995 noch 56 Prozent der Menschen im untersten Einkommensviertel, reduzierte sich dieser Anteil im Zeitraum von 2011 bis 2015 auf 48 Prozent. Für den Zeitraum von 2006 bis 2010 lag derselbe Anteil noch bei 60 Prozent. Die günstige konjunkturelle Entwicklung, steigende Beschäftigung und Reallohnzuwächse haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Gleichzeitig hat sich die Durchlässigkeit im oberen Einkommensviertel jedoch verringert. Hielten Anfang der 1990er-Jahre noch 65 Prozent der Personen aus dem oberen Einkommensbereich ihre Position, waren es Anfang der 2010er-Jahre 78 Prozent.

Allerdings ist bei derlei relativen Maßen, die die Positionsveränderungen von Menschen in der Einkommensverteilung über die Zeit messen, stets zu beachten, dass der Aufstieg einer Person mit dem Abstieg einer anderen Person verbunden ist. Mit der größeren Anzahl von Aufstiegen ging somit gleichzeitig ein höheres Abstiegsrisiko aus der unteren Mitte einher. Indes greift eine alleinige Betrachtung der relativen Einkommensmobilität zu kurz, da sie absolute Wohlstandsgewinne nicht abbildet. Auch wenn sich manche Menschen relativ gesehen verschlechtert haben, so können sie sich gegenüber vorherigen Jahren oder auch Generationen bessergestellt haben.

Zudem offenbart ein Blick auf den lang gefassten Zeitraum von 1991 bis 2015, dass es um die Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft insgesamt besser gestellt ist, als es der Blick auf die üblichen Fünfjahreszeiträume vermuten lässt: Über diesen langen Zeitraum ergibt sich ein sehr viel positiveres Bild, demzufolge deutlich mehr Menschen ihre relative Einkommensposition verbessern konnten. So gelang mehr als drei Vierteln der Menschen aus dem untersten Einkommensviertel der Aufstieg in eine höhere Einkommensgruppe und auch die Durchlässigkeit im oberen Einkommensviertel fällt größer aus als bei der vorherigen Betrachtung. Daraus ergibt sich, dass sozialer Aufstieg häufig Zeit benötigt und zu kurz gewählte Betrachtungszeiträume das tatsächliche Ausmaß der gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten nur unzureichend abbilden können.

Aufstiegsmöglichkeiten zwischen den Generationen

Auch zwischen den Generationen zeichnet sich ein Grad von relativer Einkommensmobilität ab, der so oftmals nicht vermutet wird. Im internationalen Vergleich erscheint Deutschland weder als ein Land mit sehr großen Aufstiegsmöglichkeiten von einer Generation zur anderen noch mit sehr geringen. So lassen sich in Deutschland rund 32 Prozent der Einkommensunterschiede in der heutigen Generation durch die Einkommensposition in der Elterngeneration erklären. In Italien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten liegt der Erklärungsanteil bei fast 50 Prozent. Am anderen Ende des Spektrums zeigen Dänemark, Finnland und Norwegen, dass der elterliche Einfluss auch deutlich geringer ausfallen kann. Dort liegt derselbe Anteil unter 20 Prozent. Auch wenn Spielraum für Verbesserungen besteht, macht der Vergleich deutlich, dass Aufstiegschancen zwischen den Generationen vorhanden sind und dass diese nur zu einem gewissen Teil mit den Einkommen der Elterngeneration zusammenhängen.

Schlussfolgerungen

Da die unterschiedliche Wahrnehmung bezüglich der dringlichsten Handlungsfelder eine gezielte politische Adressierung der Risikogruppen erschwert, ist eine sachgenaue Auseinandersetzung mit der Armutsproblematik von besonderer Bedeutung für den öffentlichen Diskurs. Im Gegensatz dazu birgt der weitgehend vorherrschende Niedergangsdiskurs die Gefahr, dass vornehmlich Ängste in der Mitte der Gesellschaft geschürt werden, die wenig zuträglich für die Solidarität mit dem unteren Rand der Gesellschaft sind.

Die Befunde auf Basis der unterschiedlichen Armutsmaße unterscheiden sich zwar im Detail, zeigen jedoch in keinem Fall weder eine überdurchschnittlich stark ausgeprägte Problemlage in Deutschland, noch bedeutsame Verschlechterungen, sondern vielmehr meist Verbesserungen. Unabhängig von der Wahl des Armutsmaßes lassen sich sehr robust Risikogruppen identifizieren, die nicht nur häufiger von Armut bedroht sind, sondern auch dauerhafter: Alleinerziehendenhaushalte, Familien mit drei Kindern oder mehr, Menschen mit Migrationshintergrund und Arbeitslose. Beim Blick auf Armut als Mangel an Verwirklichungschancen werden Risikofaktoren der Armutsgefährdung wie Arbeitslosigkeit und mangelnde Bildung zum integralen Bestandteil der Armut selbst. Die Senkung der Arbeitslosigkeit und die Steigerung der Erwerbsintensität sind damit nicht nur mittelbar wichtig, indem sie die Einkommenschancen verbessern, sondern unmittelbar armutsreduzierend, weil sie die Teilhabemöglichkeiten am Erwerbsleben verbessert. Dies sollte auch die Politik berücksichtigen.

Daher sollte auch zur Verbesserung der Startchancengerechtigkeit die Bildungsbeteiligung erhöht und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch gut zugängliche und qualifizierte Betreuungsangebote auch für die Kleinsten verbessert werden. Mit Nachqualifizierungsangeboten, Sprachförderung und ausbildungsbegleitenden Maßnahmen ließen sich die Einstiegs- und Aufstiegschancen für Personen mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Elternhäusern verbessern. Gerade Schulen und Bildungseinrichtungen, die besonders viele Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf betreuen, sollten mehr Personal und höhere Mittel zugewiesen werden. Mehr Anreize für eine vollzeitnahe Beschäftigung und eine höhere Betreuungsdichte für Langzeitarbeitslose könnten den Ausstieg aus dem Transferleistungsbezug erleichtern.

Die im Artikel genutzten Daten stammen aus dem INSM-Teilhabemonitor 2019

 

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