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Der große Lord

In Zeiten, in denen es offensichtlich ist, wie sehr der Politik lebenskluge Persönlichkeiten fehlen, kommt eine Biografie über Ralf Dahrendorf gerade recht. Nicht, dass wir uns nach ihm sehnen würden. Nein. Aber das sehr gute Buch hilft, sich daran zu erinnern, welches Format an Leuten wir in der Politik schmerzlich vermissen. Franziska Meifort: Ralf Dahrendorf – eine Biographie, C.H. Beck, München 2017

Tatsächlich scheint Ralf Dahrendorf (1929 bis 2009) heute ein Name zu sein, an den sich nur noch wenige Politikinteressierte und ein paar Soziologen erinnern – die meisten davon mit Respekt. Dass er nur noch einigen etwas sagt, ist schade. Denn in der bundesrepublikanischen Geschichte gab es nur wenige, die wie Dahrendorf den Typus des pragmatischen Intellektuellen verkörperten. Und vor allem: Dahrendorf gelang es wie kaum einem anderen deutschen Politiker, zwischen den Generationen glaubhaft zu vermitteln. Dass ein solcher Mann mit seinen vielen Karrieren im In- und Ausland gerade in den heutigen Zeiten der politischen Unordnung und der Neuorientierung fehlt, dürfte jedem klar sein. Schon deswegen ist Franziska Meiforts nun erschienene Biografie über Ralf Dahrendorf ein einziger Gewinn.

Meifort, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg, ist es gelungen, mit Hilfe von bisher unveröffentlichten Selbstzeugnissen Dahrendorfs und seinen autobiografischen Texten ein detailreiches Bild des Soziologen, liberalen Politikers und britischen Lords zusammenzustellen. Es zeigt ihn nicht nur in seiner Eitelkeit, sondern auch in seinem ehrlichen Bestreben nach politischen Lösungen und in seinen Selbstzweifeln. Meiforts kenntnisreiche Analyse und kritische Distanz, gemischt mit vielen bisher unbekannten Anekdoten aus dem Leben des Lords, machen die Lektüre der 335 Seiten (ohne Anhang) zu einem wahren Lesevergnügen.

Die Historikerin erzählt Dahrendorfs Leben in sechs Lebensabschnitten – von seiner Kindheit und seinem Weg zum Professor der Soziologie über den Hochschulreformer und Politiker bis zum liberalen „Exil“-Intellektuellen und englischen Lord. Dahrendorf, aufgewachsen im Dritten Reich, lernte vor allem von seinem Vater Gustav, einem Sozialdemokraten, was es heißt, sich in der Öffentlichkeit politisch zu engagieren. Gustav Dahrendorf, der als Mitwisser des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, war ihm Mentor und Vorbild. Seine intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten verhalfen dem jungen Ralf zu seiner frühen Karriere: Mit 23 Jahren war er promoviert – an der London School of Economics and Political Science machte er seinen Doktor of Philosophy (Ph. D.) – und wurde bereits mit 29 Jahren Professor. Man feierte ihn als „Wunderkind der deutschen Soziologie“ und richtete ihm in Tübingen, seiner „Traumuniversität“, einen eigenen Lehrstuhl für Soziologie ein. Seine Antrittsvorlesung „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ sorgte schnell für Furore. Auch seine frühere Arbeit am Institut für Sozialforschung in Frankfurt bei Horkheimer und Adorno beleuchtet Meifort sehr ausführlich und bietet damit en passant einen gelungenen Abriss über die deutsche Soziologie der Nachkriegszeit.

Bürgerschreck Dutschke und der liberale Lord
Ob als Bildungsreformer, Hochschulgründer (Universität Konstanz) oder engagierter Publizist – immer suchte Dahrendorf auch die politische Bühne. Schon im Dritten Reich hatte er mit Flugblättern gegen den Nationalsozialismus gekämpft. Nach einer kurzen Parteimitgliedschaft in der SPD gehörte er ab 1967 der FDP an. Sein Schlagabtausch mit „Bürgerschreck“ Rudi Dutschke im Januar 1968 auf dem Höhepunkt der Studentenproteste ist nicht nur typisch für den oft gelassenen und verständnisvollen Vermittler Dahrendorf, sondern auch legendär. Auch deswegen hat Franziska Meifort diese Begegnung als Eingangsszene für ihre Biografie gewählt.

Beim Dreikönigstreffens 1968 wurde Dahrendorf als neuer Stern am liberalen Himmel gefeiert. Mit seinen Parteitagsreden und seinen Forderungen nach Reformen traf er den Zeitgeist. So meinte er damals, dass die aus den Fugen geratene Bundesrepublik die Quittung für eine Politik ohne Experimente sei. Die Aufsässigkeit der Jugend erkläre sich dadurch, dass sich damals die Professoren, Lehrer und Eltern auf ihre hergebrachte Autorität ihrer Stellung verlassen hätten und stets meinten, die Jungen müssten doch akzeptieren, was sie selbst in ihrer Jugend akzeptiert hätten. Dahrendorf empfand die „nützliche Unruhe“ der 68er als produktiv. Sie könnte zu notwendigen Veränderungen führen, glaubte er. Zum Wagnis des Wandels gehörte bei den Politikern der Mut zur Führung, meinte er, und auch Freude daran, Menschen von neuen Wegen zu überzeugen – aber nicht mit Hilfe von Prügeleien und angezündeten Autos, sondern stets innerhalb der Ordnung von Parteien und Parlament.

Wunsch nach profundem Einfluss auf die Welt

Dahrendorf war damals „in“ – und ganz sicher war es eines seiner Ziele, auch einmal Bundeskanzler zu werden. Der Wunsch, „einen profunden Einfluss auf die Menschen und auf die Welt auszuüben“,  war bei ihm früh vorhanden. Sein Jugendwunsch lautete: Journalist werden. Doch für die große politische Karriere fehlte ihm letztlich das Gespür, das Händchen für Parteitaktik. Er blieb in der FDP eher Einzelgänger. Große inhaltliche Übereinstimmung hatte er mit der Partei ohnehin nicht. Allerdings begeisterte er vor allem den linken Flügel der Liberalen mit seinen Forderungen nach Demokratisierung und Liberalisierung. Nur: Die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfüllung blieb auch bei ihm groß. Er selbst beschrieb sich als jemand, der „rittlings auf dem Schlagbaum“, also auf der Grenze zwischen Geist und Tat saß. Auch deswegen gab es viele Brüche in seinem Lebenslauf.

Mitte der 80er Jahre nach dem Regierungswechsel zu Kanzler Kohl fühlte er sich in Deutschland nicht mehr anerkannt und gebraucht. Er ging nach England zurück, wo die Kultur des „in and out“ zwischen Politik und Wissenschaft sehr viel verbreiteter war. 1988 nahm er zusätzlich die britische Staatsbürgerschaft an. Seine vielen Verdienste in politischen Kommissionen und seine gute Vernetzung im Establishment von England führten schließlich zur Ernennung zum Lord auf Lebenszeit mit Sitz im englischen Oberhaus. Auch als Direktor der London School of Economics war ihm erhebliche Prominenz in Großbritannien sicher. So trat er mit seinem akzentfreien Englisch (seine erste Frau war Engländerin) in einer eigens für ihn inszenierten Fernsehserie „Dahrendorf on Britain“ auf und analysierte die britische Gesellschaft – so ein TV-Format würde man sich heute für die deutsche Gesellschaft wünschen.

Fazit

Meiforts Buch ist Gewinn für jeden und liefert grundsätzlich viel Stoff über politisches Wirken und Scheitern. Auch wenn die soziale Marktwirtschaft für Dahrendorf wesentlicher Bestandteil der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik war, galt er nie als „Marktliberaler“. Er schlug, untypisch für einen Liberalen, eher auch Programme wie ein soziales Pflichtjahr vor. Es ging ihm um gesellschaftliche Teilhabe, um individuelle Möglichkeiten gepaart mit staatsbürgerlicher Verantwortung. Von diesem Kaliber des Linksliberalen oder Sozialliberalen gibt es heute nicht viele. Schade. Es täte unserer Gesellschaft gut.

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