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Brexit: Ein heilsamer Schock für alle

Kommt der Brexit oder kommt er nicht? Möglicherweise ist das gar nicht mehr die entscheidende Frage. Denn eines ist klar: So wie die EU dringend Reformen benötigt, kommt Großbritannien um einen Struktur- und Identitätswandel zukünftig nicht herum. Jochen Buchsteiners Buch verbreitet Optimismus, dass dies allen gelingen könnte.

Nach wie vor ist die Entscheidung der Briten, die Europäische Union verlassen zu wollen, für den Großteil der europäischen Eliten ein Anschlag auf die Vernunft. Das ändert sich so schnell auch nicht, denn erst in Jahren wird sich zeigen, welches Ei die Briten da gelegt haben. Jochen Buchsteiners nun erschienener Essay „Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie“ kommt da genau zum richtigen Zeitpunkt, um mit Contenance die möglichen Konsequenzen zu überdenken. Und vor allem die Chancen.

Der FAZ-Journalist Buchsteiner hat es sich zur Aufgabe gemacht, Schärfe aus dem höchst brisanten Thema zu nehmen, indem er dem Leser zunächst einmal einen historischen Einblick in Britanniens Mentalität verschafft. Dass aufgeklärte demokratische Gesellschaften Wohlstand über kulturelle Identität stellen, so wie es die Europäische Union verspricht und heute von ihren Mitgliedstaaten erwartet, war nie unbedingt eine Haltung Großbritanniens. Buchsteiner erinnert daran, wie das Königreich schon einmal die Ordnung Europas durcheinanderwirbelte: 1534 brach der 43-jährige Heinrich VIII., König von England, mit Clemens VII., Papst in Rom, und erschütterte damit den Konsens, den Europa bis dahin geteilt hatte. Der aus heutiger Sicht eher lapidare Grund: Der Papst weigerte sich, der Scheidung Heinrichs von dessen erster Ehefrau, Katharina von Aragon, zuzustimmen. Heinrich gründete die anglikanische Staatskirche, die fortan eine Sonderstellung zwischen katholischer und evangelischer Kirche einnahm. Schon damals gab es turbulente Diskussionen im Königreich und viele kluge Leute fassten sich an den Kopf. Lordkanzler Thomas More, Autor des berühmten Inselstaats „Utopia“, wurde er deswegen sogar abgeschlagen.

Welcher Weg führt zu Wohlstand und Freiheit in Europa?

So sehr Britannien heute seine Souveränität als Königreich wiedererlangen will und das Brexit-Votum seiner Bürger einen bisher einzigartigen Misstrauensbeweis gegenüber der EU darstellt, so sehr ist diese rote Karte auch ein Weckruf für Brüssel: Denn die unbequeme Frage, schreibt Buchsteiner, „die der Brexit aufgeworfen hat, ist diese: Zeigt die Europäische Union mit ihrer Integrationslogik wirklich den einzigen Weg zu Freiheit, Wohlstand und Frieden in Europa?“ Auch die Briten wollten im Grundsatz dasselbe wie die Europäische Union, meint Buchsteiner, nämlich Demokratie, Rechtsstaat, Wohlstand, Frieden. „Sie glauben nur, dies besser auf eigenem Weg erreichen zu können.“

Auch wenn es für die Briten teuer werden könnte ⎼ sie sind entschlossen, politische Ziele vor wirtschaftliche zu stellen. Von diesem Aufbruch erhoffen sie sich, dass er sie in eine Zukunft führen wird, „die nicht nur nostalgisch ist, sondern die tatsächlich das Land voranbringt, indem es sich noch stärker global öffnet, indem es Handelsverträge mit vielen Ländern in der Welt abschließt“.

Hysterischer Streit um Handelspolitik

Mit dem Ausstieg der Briten verliert die EU ihr inneres Gleichgewicht, vor allem in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Zwar wirkt die EU in den Verhandlungen um den Brexit eher gestärkt: „Nach dem Referendum präsentierte sie sich in ungewohnter Geschlossenheit, fand rasch zu einer gemeinsamen Linie, entwickelte Zeitpläne für den Ausstieg und übernahm die Initiative in den Verhandlungen. Kein Mitglied scherte aus.“ Doch die zur Schau gestellte Einigkeit hat eine Ursache: Angst. Buchsteiner: „Europa ist von einer Bedeutungskrise in eine Wertekrise geraten und von dort in eine Vertrauenskrise gerutscht.“ Dennoch plädiert der Autor, weniger alarmistisch zu reagieren. „Der ganze Streit um die Handelspolitik wirkt ein wenig hysterisch ⎼ auf beiden Seiten des Kanals.“ Denn weder seien die Briten durch ihre EU-Mitgliedschaft von größeren Exportleistungen ferngehalten worden noch stünde fest, dass sie als eigenständige, mit Europa weiterhin verbundene Handelsnation scheitern müssen. Beispielhaft dafür steht die Schweiz.

Und was die Außenpolitik angeht, meint Buchsteiner, sollte die EU weiterhin fest auf ihren Inselnachbarn zählen dürfen: Großbritannien bleibt ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen und ist nach wie vor die einzige von zwei europäischen Atommächten.

Ob Britanniens Aufbruch gelingt? Buchsteiner: „Im glücklichen Fall wird die Wirtschaft im Königreich halbwegs ungeschoren davonkommen, und die Briten werden ein bisschen fröhlicher mit sich sein.“ Im schlechten Fall verringere sich der Wohlstand, das politische Gewicht lasse nach, und die Spannung in der Gesellschaft vertiefe sich. Die wahrscheinlichste Variante allerdings ist für Buchsteiner eine Melange, „ein Nebeneinander von Vor- und Nachteilen, weshalb in einigen Jahren Ausstiegsfreunde wie -gegner gleichermaßen fragen könnten: War es die ganze Aufregung wert?“

Und die EU? Auch für sie könnte der Brexit eine Chance sein, nämlich endlich altbackene Strukturen abzubauen, schneller und flexibler zu werden und zu erkennen, dass politische Vielfalt der Nationalstaaten ein Wesensmerkmal Europas ist und nicht als Schwäche oder gar Bedrohung angesehen werden kann.

Fazit

Jochen Buchsteiners Buch liest sich angesichts der Emotionalität, die der Brexit allerorten ausgelöst hat, angenehm unaufgeregt ⎼ gerade so, als wäre nur ein Stückchen Zucker zu viel in den Afternoon Tea gefallen. Möglicherweise ist der Brexit tatsächlich der von ihm prognostizierte „heilsame Schock“, der EU und England gleichermaßen voranbringen und stärken wird.

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