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Neoliberalismus – oder: Die Wiederbelebung der sozialen Frage

Der Begriff "Neoliberalismus" entstand am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Seitdem hat er einen Bedeutungswandel erfahren. Ein Blick zurück ins Walter Lippmann Kolloquium von 1938 hilft, den Neoliberalismus besser zu verstehen. Das gilt vor allem für heutige Liberale.

Es gibt kaum einen Begriff, der im Laufe seiner Geschichte dermaßen an Reputation verloren hat wie der Begriff „Neoliberalismus“. Einst angefangen als Hoffnungsbringer und Erneuerer des Liberalismus Ende der 30er-Jahre hat er es in den darauffolgenden Jahrzehnten mit zunehmender Liberalisierung und Deregulierung der Märkte, mit Thatcherismus und Reagonomics zu einem Schimpfwort für ungezügelte Laissez-faire-Politik geschafft.

Auch heute steht er für viele Kritiker immer noch als Synonym für die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und für soziale Kälte. Andere wiederum sehen in ihm den Garanten eines funktionierenden Marktes. Er hat es also schwer, dieser Begriff „Neoliberalismus“, und seine Deutungsspanne ist mehr als missverständlich.

Das nun von dem französischen Soziologen Serge Audier und dem amerikanischen Politologen Jurgen Reinhoudt vorliegende Werk „Neoliberalismus – wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium“ unternimmt den Versuch, den Ursprung des Begriffs auszuleuchten – und zwar mithilfe der Protokolle, die in dem vom 26. bis 30. August 1938 in Paris realisierten Treffen der „Lippmann-Freunde“ notiert wurden, und deren relevantesten Passagen nun in ihrem Buch gebündelt sind. Das Werk liegt erstmals in deutscher Sprache vor.

Internationales Treffen der Liberalen und Emigranten

Der Hintergrund des Kolloquiums: Die Freunde des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann (1889 – 1974) trafen sich, um – wie es damals hieß –, „den Niedergang des Liberalismus und die Bedingungen für eine Rückkehr zu einer liberalen Ordnung, die sich vom Manchester-liberalen Laissez-faire unterscheidet, zu erörtern“. Angesichts der Krise des Kapitalismus in den Jahren nach dem Börsencrash von 1929 und der faschistischen Bedrohung durch die Nazis versuchten sie, den Liberalismus kritisch zu prüfen und zu erneuern.

Die Fragen, die sich die Teilnehmer vor über 80 Jahren stellten, könnten heute nicht aktueller sein.

Zu den internationalen Teilnehmern gehörten Ökonomen (darunter Louis Baudin, Jacques Rueff, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises), Philosophen (unter anderen Raymond Aron und Michel Polanyi), Sozialwissenschaftler (wie Bruce Hopper und Alfred Schütz), Geschäftsleute, Juristen und als einziger Journalist Walter Lippmann. Es war also eine recht heterogene Versammlung von Liberalen und Emigranten, die in dem vorliegenden 300 Seiten starken Buch jeweils in einer Kurz-Vita beschrieben werden. Lippmanns damals gerade ins Französische übersetztes Buch „The Good Society“, in welchem er die These aufstellte, dass die Marktwirtschaft nicht das „spontane Ergebnis einer natürlichen Ordnung“ war, sondern Ergebnis einer Rechtsordnung, die das Eingreifen des Staates voraussetzte, stand im Mittelpunkt der Gespräche.

Sozialliberale Forderungen statt Marktmacht

Die Fragen, die sich die Teilnehmer vor über 80 Jahren stellten, könnten heute nicht aktueller sein: „Ist der Liberalismus fähig, seine sozialen Aufgaben zu erfüllen?“ „Ist das liberale System grausam? Ist es fähig, die sozialen Bedürfnisse des Bewusstseins der Massen heute zu erfüllen?“ Auch von einem „Existenzminimum“ ist damals schon die Rede, die an die heutige Diskussion um den Mindestlohn erinnert. Ebenso standen die  Vermischung von Liberalismus und „ökonomischem Nationalismus“ und die Fragen nach den soziologischen und politischen Ursachen der liberalen Idee damals schon zur Debatte. Walter Lippmanns Agenda für die „Rückkehr des Liberalismus“ fand allgemeine Zustimmung.

Heutige, vor allem wirtschaftsgetriebene Liberale dürften sich verwundert die Augen reiben: Denn im Mittelpunkt der Lippmann-Agenda standen nicht die freie Entfaltung des Marktes und das ökonomische Paradies, sondern das Ansinnen, „den am meisten benachteiligten Klassen das größtmögliche Maß an Wohlstand zu verschaffen“. Als einen „positiven Liberalismus“, „Sozialliberalismus“ oder eben auch „Neoliberalismus“ bezeichneten die damaligen Teilnehmer ihren neuen Liberalismus. Er war ein entschiedener Gegner des Kommunismus, des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus.

Die Diskutanten strotzten damals vor liberaler Selbstkritik, sie erörterten die Ursachen des Niedergangs des Liberalismus und seine „Grausamkeiten“  schonungslos. Zu den größten Kritikpunkten gehörten die vom Staat komplett ungeschützte freie Entfaltung des Marktes, die ungebremste Möglichkeit zur Monopolbildung und die bereits erwähnte Missachtung der sozialen Sicherheitsbedürfnisse der Menschen. So ist es keine große Überraschung, dass in den Protokollen bereits erste Vorläufer der späteren Sozialen Marktwirtschaft anklangen: Ein liberaler Staat muss Steuern für soziale Dienste und Sicherung, für Verteidigung, Bildung und Forschung erheben.

Fazit

Das im Jahr 1938 veranstaltete Walter Lippmann Kolloquium gilt als der theoretische Ursprung des Neoliberalismus. Der Stellenwert des Kolloquiums und sein geistiges Erbe sind zwar heute immer noch umstritten, doch zweifellos geben die Protokolle den Lesern einen idealen, weil ungeschminkten Eindruck von der Bedeutung dieses Treffens. Vor allem aber machen die Auszüge deutlich: Wenn der Liberalismus bedeutsam bleiben will, muss er sich regelmäßig überprüfen, denn Liberalismus ist eine Haltung und kein Vehikel für machtpolitisches Kalkül.

Serge Audier, Jurgen Reinhoudt: Neoliberalismus – wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium

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