OrdnungspolitikTagged , , , , ,

Wie konservativ ist Amy Coney Barrett?

Kurz vor der US-Präsidentschaftswahl sorgte eine Personalie für Aufregung, welche die USA auf lange Zeit prägen wird: die Wahl von Amy Coney Bar­rett zur Supreme-Court-Richterin. Auch wenn das viele vermuten: Eine konservative Hardlinerin ist sie nicht. Vielmehr könnte ihre Wahl wieder einmal zeigen, dass eine simple parteipolitische Gleichung der Realität nicht gerecht wird. Ein Blick in das US-amerikanische Verfassungssystem.

Kurz vor der US-Präsidentenwahl wurde die Juristin Amy Coney Barrett als Richterin des höchsten Gerichts der USA, des Supreme Courts, vereidigt. 52 der 53 republikanischen Senatorinnen und Senatoren stimmten für die vom Präsidenten nominierte Kandidatin. Die Nachbesetzung der Stelle der am 18. September verstorbenen Richterin des Supreme Courts Ruth Bader Ginsburg hatte in den USA hohe Wellen geschlagen und war auch von deutschen Medien aufmerksam begleitet worden. Auffallend war, dass der Vorgang vielfach in der Form eines Kulturkampfes der Linksliberalen gegen die Konservativen, um nicht zu sagen von Fortschritt gegen Rückschritt, Gut gegen Böse, nachgezeichnet wurde. Dementsprechend prominent wurden „kulturelle“ Faktoren thematisiert: Barretts Religion und die Zahl ihrer Kinder, der mutmaßliche Einfluss ihrer persönlichen Wertvorstellungen auf Urteile in Verfahren, die Fragen des Abtreibungsrechts oder die rechtliche Diskriminierung Homosexueller betreffen.

Damit konzentriert sich die Diskussion vor allem auf weltanschauliche Fragen. Das ist nicht irrelevant, zumal diese im faktischen Zweiparteiensystem der USA höchst polarisiert und politisiert sind. Zugleich bringt dieser Fokus aber mit sich, dass andere Aspekte weitgehend ausgeblendet werden. Dazu zählt zum Beispiel die Frage nach den fachlichen Qualifikationen. Das mag auch der politischen Situation geschuldet sein. Dennoch ist es typischer Alltagssexismus, beruflichen Erfolg von Frauen eher den Umständen zuzuschreiben als ihrer harten Arbeit.

Originalism vs. Living Constitution

Vielleicht hängt damit zusammen, dass auch eine der spannendsten Fragen zur Juristin Amy Coney Barrett in der Berichterstattung hierzulande eher unterbelichtet geblieben ist: ihre Position in einer US-amerikanischen rechtswissenschaftlichen Debatte, die grob mit den Polen „Originalism“ und „Living Constitution“ umrissen werden kann. Gegenstand der Auseinandersetzung ist die Auslegung der Verfassung. Während der Originalismus davon ausgeht, dass die geschriebene Version der Verfassung verbindlich ist und sich die Auslegung an dem allgemeinen ursprünglichen Verständnis der Bestimmungen zu orientieren hat, geben die Vertreterinnen und Vertreter der Lehre von der Living Constitution der Anpassung von Verfassungsbestimmungen an zeitgenössische Auffassungen deutlich mehr Raum.

Zwar wird der Originalismus eher dem republikanischen, die Lehre von der Living Constitution eher dem demokratischen Lager zugeordnet, doch diese Debatte lässt sich nicht einfach entlang einer Parteilinie oder Weltanschauung oder Religion darstellen. So gibt es beispielsweise starke originalistische Argumente für die gleichgeschlechtliche Ehe. Umgekehrt waren es in der umstrittenen Supreme-Court-Entscheidung „Kelo v. City of New London“ die Anhängerinnen der Living-Constitution-Doktrin, die die Enteignung einer Krankenschwester zugunsten eines Immobilienentwicklers für Recht befanden.

Der Fall verdeutlicht anhand des Umgangs mit dem Begriff „Public Use“ den Unterschied zwischen den beiden Ansätzen. Nach geltendem Recht ist eine Enteignung eines Grundstücks möglich, wenn das Land für „Public Use“ benötigt wird. Es ist unumstritten, dass darunter Fälle wie der Bau einer Straße oder einer öffentlichen Schule verstanden werden. Originalistinnen argumentieren, dass eine Ausweitung der Enteignungsgründe nicht im Belieben der Richterinnen liegt, auch nicht derjenigen am höchsten Gericht, sondern nur im Wege der Verfassungserweiterung möglich ist. Das Urteil folgt allerdings nicht dieser Ansicht, sondern der Lehre von der Living Constitution. Dabei wird durch Auslegung die Definition so erweitert, dass nicht nur ein öffentlicher Gebrauch, sondern auch ein öffentlicher Zweck, wie etwa wirtschaftliche Entwicklung, davon abgedeckt sind.

Zusätzlich wird die rechtliche Situation dadurch verkompliziert, dass im Common-Law-System der USA nicht nur die geschriebene Verfassung, sondern auch Präzedenzfälle als bindendes Recht anerkannt sind. Coney Barrett hat sich wissenschaftlich mit den möglichen Widersprüchen und Spannungen in der Rechtsauslegung auseinandergesetzt. Ihre Publikationen ebenso wie ihre bisherige Tätigkeit als Richterin am Berufungsgericht des 7. Circuit weisen sie dabei nicht als konservative Hardlinerin aus. Vielmehr scheint es so, dass sie erstens ein sehr starkes Gewicht auf die Fakten des Einzelfalles legt und zweitens keine extremen Positionen vertritt.

Selbstredend erlaubt die Tätigkeit an einem untergeordneten Gericht keine Prognose von Coney Barretts Entscheidungen am Supreme Court. So bleibt es eine spannende Frage, welche Auswirkung die Änderungen in der Richterinnenschaft des Supreme Court auf künftige Urteile haben werden, nicht zuletzt im Hinblick auf wirtschaftliche Freiheiten. Themen und Konflikte gibt es zuhauf: die Zukunft des Gesundheitssystems, die Rechtsetzungskompetenzen von Ämtern, die zu einer hohen Regulierungsintensität geführt haben, oder die künftige Anwendung der sogenannten „Commerce Clause“, die den zwischenstaatlichen Handel der US-Staaten der Regelungshoheit des Bundes unterwirft.

Auch dieser Fall könnte zeigen, dass eine simple parteipolitische Gleichung der Realität nicht gerecht wird. Sollte etwa die Umweltschutzgesetzgebung eines Staates oder, wie in einem aktuellen Fall, die Verweigerung einer Genehmigung wegen Umweltbedenken mit der Begründung, sie würde den zwischenstaatlichen Handel beeinflussen, vor dem Supreme Court landen, ist die Auslegung der Commerce Clause entscheidend. Eine eher den Republikanerinnen zugetraute restriktivere Auslegung plädiert für einen stärkeren Föderalismus, der den Staaten mehr Eigenständigkeit zugesteht. Eine eher von Demokratinnen favorisierte weite Auslegung billigt hingegen der Bundesregierung einen größeren Einfluss auf die Politik der einzelnen Staaten zu.

Wenn der Umweltschutz nicht sehr hoch auf der Prioritätenliste von Präsident und Regierung angesiedelt ist, kann eine weite Auslegung der Commerce Clause als Vorlage dienen, höhere Umweltanforderungen in einzelnen Staaten zu kassieren. Eine föderalistische Auslegung stärkt hingegen die Rechte der Staaten. Das gilt nicht nur im Schlechten, sondern eben auch im Guten.

Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass die Rechtsprechung mehr involviert und zumindest auch anderen Logiken folgt als Parteizugehörigkeit und Mehrheitsverhältnissen. Damit sollen keinesfalls die auch mit rechtlichen Mitteln ausgetragenen gesellschaftlichen Probleme kleingeredet werden. Das wäre gerade in einem Land, dessen militärisch aufgerüstete Polizei oder drakonisches Drogenstrafrecht regelmäßig tödliche Konsequenzen für die eigenen Bürgerinnen und Bürger haben, nachgerade blauäugig. Ebenso wenig ist die Berufung von Amy Coney Barrett an den Supreme Court aber Grund zu der Annahme, dass der Untergang des Landes nun besiegelt sei.

Keinen Ökonomen-Blog-Post mehr verpassen? Folgen Sie uns auf Facebook, Instagram und Twitter, und abonnieren Sie unseren RSS-Feed sowie unseren Newsletter.