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SPD: Partei der Arbeit oder der Arbeitslosen?

Nach über 15 Jahren hadert die SPD noch immer mit den Beschlüssen der Agenda 2010  trotz des großen arbeitsmarktpolitischen Erfolges. Damit setzt sie nicht nur weiter sinkende Arbeitslosenzahlen aufs Spiel, sondern verliert auch ihre Kernzielgruppe aus den Augen.

Am 1. Juni 2003 fand in Bochum ein Bundesparteitag der SPD statt, der sich mit der Agenda 2010 als Schwerpunktthema befasste. Bundeskanzler Gerhard Schröder bekam für sein Plädoyer für die Arbeitsmarkt-Reformen laut Protokoll „lang anhaltenden Beifall“. Der prominente Parteilinke Erhard Eppler warf den Kritikern der Agenda vor, ihre Argumente seien schon Ende der Siebzigerjahre überholt gewesen, und beschwor drohend den „Charakter einer Selbstzerstörung der Arbeiterbewegung“ im Falle einer Parteitagsmehrheit gegen die Reformpolitik der rot-grünen Regierungskoalition. Der Leitantrag des Parteivorstands zugunsten der Agenda 2010 wurde von 90 Prozent der Delegierten angenommen. Im Parteivorstand hatte es nur vier Gegenstimmen gegeben. Einige spätere Fundamentalkritiker lassen sich nur ungern an ihre Billigung des Kurses erinnern.

Es ist die Tragik der Sozialdemokratischen Partei, dass sie die Philosophie der Agenda-Reformen nie verinnerlicht hat.

Es ist die Tragik der Sozialdemokratischen Partei, dass sie die Philosophie der Agenda-Reformen nie verinnerlicht hat und seitdem wider besseres Wissen zulässt, dass die Hartz-Reformen als Sozialabbau missverstanden werden. Sie lässt außerdem seit 2005 zu, dass die Rückkehr zur Vollbeschäftigung in weiten Teilen Deutschlands nicht als sozialdemokratische Leistung erkannt und anerkannt wird. Hätte sich die SPD den Leitsatz „Fördern und Fordern“ und die programmatische Verbindung von Flexibilität und sozialer Sicherheit – „Flexicurity“ – zu eigen gemacht, hätte sie eine „Partei der Arbeit“ auf der Höhe der Zeit werden können.

Was waren die wirklichen arbeitsmarktpolitischen Treiber bei der Rückkehr zur Vollbeschäftigung? Erstens: die Verkürzung von Lohnersatzleistungen auf 12 Monate im Regelfall, um die Eigeninitiative bei der Arbeitssuche zu fördern. Zweitens: die Veränderung von Zumutbarkeitsregeln, um die Arbeitsaufnahme nicht an einem überhöhten, unrealistischen Anspruchslohn scheitern zu lassen. Drittens: die Überprüfung und Ausmusterung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente hinsichtlich ihrer Wirksamkeit.

Andrea Nahles, Parteivorsitzende der SPD und vorherige Bundesarbeitsministerin, hat in der FAZ vom 17. November 2018 eine „große Sozialstaatsreform“ skizziert: gegen die „Drohung mit Sanktionen im Hartz-IV-System“; höherer Mindestlohn; „Kinder aus der Sozialhilfe“ (= Hartz IV) holen; Rechtsanspruch auf Weiterbildung; „Sozialer Arbeitsmarkt“. Sie wehrt sich – zu Recht – gegen das bedingungslose Grundeinkommen des Grünen-Chefs Habeck und plädiert stattdessen für ein „Bürgergeld“. Mit Verlaub: Das ist Wortgeklingel. Die Diffamierung der erfolgreichen Arbeitsmarktreformen als „Hartz-IV-System“ lässt an ihrem guten Gedächtnis zweifeln: Mit dem unglücklich benannten Arbeitslosengeld II war die faktische Abschaffung der alten Sozialhilfe verbunden, deren Leistungsniveau geringer war als das weitgehend pauschalierte ALG II.

Wer Grundsicherungsleistungen für Kinder kritisiert, kritisiert Armutsbekämpfung. Wer Sanktionen zur Vermeidung von Sozialleistungsmissbrauch bekämpft, begünstigt auch das Treiben von Großfamilien vom Balkan, die sich im deutschen Sozial- und Arbeitsrecht bestens auskennen. Wenn Nahles und Scholz den Mindestlohn auf oder über 12 Euro in der Stunde anheben wollen, konterkarieren sie die gesetzlich vorgesehene Kommission aus Tarifpartnern und tragen bei einfachen Dienstleistungen zum Arbeitsplatzabbau und zur Schwarzarbeit bei.

Die angebliche „große Sozialstaatsreform“ ist alles andere als ein großer Wurf. Sie ist ein Dokument der Ratlosigkeit, was die zentrale Botschaft und die Zielgruppen der früheren Volkspartei SPD sind. Die SPD war erfolgreich als Partei des sozialen Aufstiegs. Wenn sie nur noch Modernisierungsverlierer und Empfänger von Sozialleistungen anspricht, wird sie den Weg in die Bedeutungslosigkeit beschleunigen.

Dieser Text ist zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

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