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Mehr Start statt Staat

Dieses Buch wirkt zunächst wie ein Tritt vors eigene Schienbein. Denn hier haben sich Politiker aus den aktuellen Regierungsparteien und Verwaltungsexperten zusammengetan, um mit dem deutschen Staat Tabula rasa zu machen. Tatsächlich ist es aber ein konstruktives und optimistisches Werk geworden, das mit über einhundert Verbesserungsvorschlägen zu Themen wie Bildung, Bürokratie, Digitalisierung, Infrastruktur oder Klima viele neue Impulse bietet. Eines ist von vornherein klar: Ohne Mut wird in Deutschland keine Reform gelingen.

„Wir sind zu bürokratisch, zu starr und zu langsam.“ Mit diesem Zitat steigen die Autoren Nadine Schön und Thomas Heilmann ein in ihre Analyse über Politik und Staat in Deutschland – und setzen mit ihrer Kritik durchaus bei sich selbst an. Denn die Juristin Schön und der Unternehmer Heilmann sind Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag. Nicht die Verwaltungsmitarbeiter seien Ursache für die mangelnde Performance staatlicher Bürokratie und Abläufe, sondern die Politiker, die die Regelungen und Gesetze festlegten. Über fünf Dutzend Ideengeber aus Verwaltung, Politik und Wirtschaft haben die Autoren für ihr Projekt in themenübergreifenden Gruppen zusammengebracht und deren Vorschläge für einen „Upload Deutschland“ in ihr Buch „Neustaat – Politik und Staat müssen sich ändern“ gegossen – auf rund 300 Seiten mit vielen farbigen Grafiken, erklärenden Exkursen und herausgehobenen Zitaten.

Fünf Megatrends

Für eine grundlegende Reform innerhalb der nächsten zehn Jahre sei es höchste Zeit, meint das Autorenteam, denn der Staat würde immer mehr mit Ineffizienz und alltäglichem Versagen assoziiert. Wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftlicher Wohlstand hätten jeher ihr Fundament in funktionierenden staatlichen Strukturen. Und ein nicht leistungsfähiger Staat verliere als Erstes seine Kompetenz, dann das Vertrauen und schließlich die Macht. So haben Schön und Heilmann zunächst fünf Megatrends identifiziert, denen sich die Bundesrepublik stellen muss, um im internationalen Wettbewerb zukünftig mitzuhalten. Zu diesen Trends zählen die Digitalisierung, Europas neue alleinige Position zwischen China und den USA, der Klimawandel, der gesellschaftliche Wandel und mittlerweile auch die Pandemie-Vorsorge („Corona wird nicht die letzte Pandemie sein, die uns bedroht“).

Dann folgt eine Anzahl neuer Aufgaben für die Politik. Sie reichen von der Gründung digitaler Pilotschulen (ähnlich dem Konzept von Musikschulen) und Computing als Grundkompetenz in weiterführenden Schulen bis zur Bildung einer Zukunftslobby (neue Ideen sollen früher auf die Tagesordnung kommen) auf politischer Ebene. Die Gründerszene soll stärker unterstützt werden (staatliche Anreize für Wagniskapital und „Welpenschutz“ für europäische Start-ups) – am besten schon an der Uni: Mithilfe eines Universitätsfonds soll es gelingen, an ausgewählten Hochschulen mehr Kapital für Beteiligungen an Start-ups zur Verfügung zu stellen. Einen von der öffentlichen Hand geförderten Mitarbeiterbeteiligungsfonds halten die Autoren in diesem Zusammenhang für genauso sinnvoll wie die Einführung einer Doppelrente (2,5 Prozent des Bruttolohns fließen statt in die Rentenversicherung in den Aufbau eines Kapitalstocks. Zum Ausgleich baut der Staat eine „Rentenbrücke“).

Eine neue Fehlerkultur braucht die Rückendeckung aus der gesamten Gesellschaft.

Zur wichtigsten Aufgabe der Wirtschaftspolitik erklären die Autoren allerdings die „digitale Leitkultur“ und die Standardisierung der Prozesse. Sie fordern die Einrichtung einer Datentreuhand (eine Verwalterin, die sich zwischen Infrastruktur und die Nutzer schaltet), die Modernisierung der Datenschutzaufsicht und eine Open-Data-Government-Initiative, um Daten nicht nur zwischen den Behörden, sondern auch zwischen den Instituten von Forschung und Wissenschaft austauschen zu können. Neben der Zulassung von elektronischen Wertpapieren im Zivilrecht und mehr Rechtsklarheit für deren Emission und Verwahrung erwarten sie auch die Einführung des digitalen Euro durch die Europäische Zentralbank. Damit wollen sie nicht nur das Bezahlen im internationalen Handel erleichtern, sondern auch der Gefahr von privaten Weltwährungen wie Libra vorbeugen. Auch deswegen sind sie von der Blockchain-Technologie überzeugt, weil sie ihres Erachtens auch für einen möglichen E-Euro die höchste Sicherheit liefert.

Kein Staatswandel ohne Kulturwandel. Im „lernenden Staat“ von Thomas Heilmann und Nadine Schön wird nichts funktionieren, wenn es in Politik und Verwaltung weiter die Tendenz gibt, neue Dinge zu unterlassen, anstatt sie zu unternehmen. Eine neue Fehlerkultur braucht die Rückendeckung aus der gesamten Gesellschaft, meinen die Autoren. Vor allem braucht sie auch eine neue Politikergeneration mit mehr Gespür für notwendige Veränderungen, mit Augenmaß und gleichzeitig mehr Mut. Auch deswegen verstehen Schön und Heilmann ihr Buch als ein Plädoyer für einen „staatlichen Mutanfall“.

Fazit

Es ist ein Buch voller cleverer Ideen und nicht selten provokanter Thesen geworden. Wer immer in den nächsten zehn Jahren regiert, hat mit dieser Studie eine ausgezeichnete Vorlage, um ein dringend benötigtes Reformkonzept für die Bundesrepublik zu entwickeln. Fragt sich nur, ob diejenigen, die dann vorangehen, auch tatsächlich genügend Willen und Mut haben, den notwendigen Wandel einzuleiten.  

Thomas Heilmann und Nadine Schön: Neustaat – Politik und Staat müssen sich ändern, 64 Abgeordnete und Experten fangen bei sich selbst an – mit 103 Vorschlägen, FBV, München 2020

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