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Der Kapitalismus muss nicht neu erfunden werden

Der Stakeholder vor dem Shareholder, der Staat vor dem Unternehmen, das Land vor dem Individuum. – In Deutschland wird an einem Narrativ gearbeitet, das kritikwürdig ist. Die Protagonisten suchen weniger eine bessere Ökonomie, sondern vielmehr eine opportunistische Allianz zwischen politischem Machtstreben und Partikularinteressen.

Gerd Maas

Autor

Gerd Maas

ist Unternehmer im oberbayerischen Landkreis Rosenheim, Publizist, Leiter Wirtschaftsethik-Kommission der Familienunternehmer e.V. und bloggt regelmäßig unter Maashaltig.

Beim hochrangig besetzten 13. Wirtschaftsgipfel der WELT wurde jüngst großspurig die „Entstehung eines neuen Kapitalismus“ als epochale Wende prophezeit. Laut der Berichterstattung stand im Zentrum der Aussprache die Abkehr vom Shareholder-Value zugunsten des Stakeholder-Value. „Das Land zuerst, dann das Unternehmen“ wurde dazu als obskure Parole ausgegeben – als ob jemals jemand ernsthaft zwischen den Interessen der Unternehmen und der Nation eine solche Konkurrenz gesehen hätte.

Die Riege von Top-Konzernmanagern (Deutsche Bank, Springer, Lanxess, Henkel, Infineon u.a.) und Top-Politikern (Kanzler, Finanzminister, Verkehrsminister, Justizminister, Unions-Vorsitzender u.a.) strickt da ein Narrativ – oder widersprach ihm zumindest nicht merklich – , das hinten wie vorne nicht passt. Die WELT-Wirtschaftsgipfelstürmer verkennen, dass der Shareholder-Value nie der Inbegriff des amoralisch, asozial Kalten war, wie ihn die Linken gerne brandmarken. Der Stakeholder-Value hingegen muss nicht erst eingeführt werden, weil genau das nämlich die Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft ist und im größten Teil der Wirtschaft – insbesondere dem Mittelstand und den Inhaber- und Familienunternehmen – schon immer zum Selbstverständnis gehört.

„Die Marktwirtschaft ist das ökonomische Pendant zur demokratischen Souveränität der Staatsbürger.“

Es steht zu befürchten, dass die Intention der Protagonisten viel weniger eine bessere Ökonomie ist, sondern vielmehr eine opportunistische Allianz zwischen politischem Machtstreben und den Partikularinteressen der Großkonzerne, die von der Mitgestaltung einer mehr und mehr regulierten Wirtschaft profitieren und ihre Skalenvorteile bei der bürokratischen Verwaltung gegenüber aufstrebenden Wettbewerbern nutzen können beziehungsweise ihre Marktmacht nutzen, um die Verpflichtungen auf Zulieferer zu verlagern. All das werden wir als Beispiel genau zu diesem Kontext beim Sorgfaltspflichtengesetz (landläufig Lieferkettengesetz) bald zur Genüge beobachten können.

Ohne dass ich jeden einzelnen Teilnehmer des WELT-Wirtschaftsgipfels in Sippenhaft nehmen will – solche Formate sind entgegen dem Anschein kaum auf Nuancen angelegt –, kommt doch noch erschreckend hinzu, dass so etwas ausgerechnet von einem bürgerlich-liberalen Medienhaus und mit erheblicher FDP-Beteiligung ausgeht.

Was ist die richtige ökonomische Ordnung?

Populistisch verbandelt man den Shareholder-Value gerne mit einzelnen Exzessen überbordender Gier (Enron, Wirecard, Cum-Ex, Panama Papers etc.), die fraglos eine korrupte dunkle Seite der globalen Ökonomie repräsentieren, aber in keiner Weise repräsentativ sind für die kapitalistische, marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung. Trotz des fraglos erheblichen Wohlfahrtsverlustes aufgrund solcher faulen Stellen im System konnten sie auch nie die positive globale Gemeinwohlentwicklung verhindern oder signifikant ausbremsen (ganz im Gegensatz zu ideologischen Regimen, korrupten Diktatoren und kriegstreibenden Machthabern). Kein menschliches Miteinander, das nicht Einzelne hervorbringt, die andere unlauter übervorteilen wollen. Keine Ordnung, die das abschließend verhindern kann.

In einer sich natürlich immer wandelnden Welt mit wechselnden Herausforderungen muss man sich selbstverständlich immer wieder neu Gedanken machen, wie die ökonomische Ordnung bestmöglich ausgestaltet ist. Dabei aber gerade die Ordnungsethik von Kapitalismus und Marktwirtschaft infrage zu stellen, ist absurd. Die Moral des Tausches – Leistung und Gegenleistung – aus der jeder seinen eigenen Nutzen zieht und gerade deswegen den anderen seine Hilfe anbietet, ist für uns evolutionär sozial abhängige Menschen der entscheidende Weg, um in Freiheit und Frieden und ohne Gängelung von politischen oder feudalen Führern unser Leben eigenverantwortlich zu betreiben. Die Marktwirtschaft und das damit unvermeidlich verbundene kapitalistische individuelle Eigentum ist das ökonomische Pendant zur demokratischen Souveränität der Staatsbürger.

Das Funktionieren dieses marktwirtschaftlichen Nutzenaustausches drückt sich in Gewinn bei den Anbietern und Bedürfnisbefriedigung bei den Nachfragern aus – wobei der Einzelne auf Güter-, Arbeits- oder Kapitalmärken unterschiedliche Rollen einnimmt. Öffentliche Güter im weiteren Sinne, negative externe Effekte und die Verhinderung von marktbeherrschenden Stellungen erfordern ein paar Ordnungseingriffe, ansonsten reguliert sich das Win-Win am Nutzen beiderseits selbst und jeder hat ein Grundinteresse an fairem Umgang. Auch wenn uns Heerscharen von Anwälten anderes glauben machen wollen, funktioniert der alles überragende Anteil der gesamten Wirtschaft nach wie vor hervorragend mit dem Handschlag zwischen den Tauschpartnern.

Der Gewinn von Unternehmen drückt in diesem Sinne die gesamte Wohlfahrtskraft einer Gesellschaft aus. Gewinn heißt:

  • Verfügbarkeit nutzenstiftender Produkte
  • Erzeugung von Mehrwert in der Produktion, weil der abgesetzte Output-Nutzen höher bewertet wird als der Input-Nutzen der Produktionsfaktoren
  • Einnahmen der Faktoranbieter – Arbeitnehmer, Kapitalgeber und Verpächter – und der Lieferanten des Unternehmens und deren Lieferanten und Faktoranbieter usw.
  • Investitions- und Innovationspotenzial des Unternehmens und Krisenfonds
  • Luft für gemeinwohldienliche Investitionen über staatliche Vorgaben und ökonomische Notwendigkeiten hinaus z.B. in Umweltschutz, Arbeitssicherheit, Unfallprävention, Work-Life-Balance etc. oder auch für Spenden und Mäzenatentum
  • Verfügbare Mittel für den Staat: Der Gewinn ist die entscheidende Grundlage für alle staatliche Besteuerung. Einerseits als eigene Steuerbemessungsgrundlage und andererseits weil nur profitable Unternehmen langfristig Umsätze sowie Einnahmen und Einkommen bei Lieferanten und Faktoranbietern erzeugen, die wiederum versteuert werden.

Wenn man die gemeinwohlförderliche Funktion des unternehmerischen Gewinnstrebens anerkennt – und die Fakten der Wohlstandsentwicklung marktwirtschaftlicher Gesellschaften legen das nahe – dann kann man auch den Shareholder-Value nicht verteufeln. Der Shareholder-Value-Ansatz ist nichts anderes als die Übertragung des einzelunternehmerischen Gewinnstrebens auf Betriebe im Streubesitz. Der Shareholder-Value-Ansatz stellt die Anteilseigner ins Zentrum der Managementbemühungen. Gewinn und daraus folgend Börsenwert sind die Beweggründe der Anteilseigner, um einer Aktiengesellschaft eigenes Geld mit unmittelbarem Verlustrisiko zur Verfügung zu stellen. Da das Management mit fremdem Geld ohne eigenes Risiko und mit sehr beschränkter Haftung wirtschaftet, muss man sie im Innenverhältnis ausdrücklich darauf verpflichten.

Das Principal-Agent-Problem

Nicht zu leugnen ist die Gemengelage aus Informationsdefiziten in der Principal-Agent-Beziehung von Eignern und Management sowie der Zwiespalt zwischen Leistungsanreizen für die Manager und ihrer Haftungsbeteiligung für die getroffenen Entscheidungen. Das fördert – verbunden mit manchen Management-Ausbildungen, die sich unter dem Shareholder-Schlagwort vom Ganzen entkoppelt haben – eher eine kurzfristige Gewinnmaximierung und Vernachlässigung strategischer Interessen. Es kommt leichter zu einem Denken des Managements in Quartalen während die Eigner ihre Investitionen eher über Generationen profitabel erhalten wollten.

Eine solche kurzfristige Gewinnstrategie verbunden mit schnelllebigen Märkten, bei denen die ordnungspolitisch notwendigen Rahmensetzungen leicht einmal hinterherhinken und zudem global unterschiedliche Rechts(frei)räume genutzt werden können, kann dann tatsächlich dazu führen, dass die Koppelung von Eigennutz/Gewinn und Gemeinwohl durch die unsichtbare Hand des Marktes loser wird. Während dabei der soziale Aspekt durch Mitbestimmung der Arbeitnehmer, Tarifbindung und Arbeitsrecht sowie Steuern und Abgaben im demokratischen Rahmen kaum betroffen ist, kommen ökologisch nachhaltige, aber auch ökonomische langfristige Ansätze dadurch gegebenenfalls ins Hintertreffen.

„Die Übertreibung eines Systems erfordert das Einhegen der Übertreibung und nicht die Revision des Systems.“

Grundsätzlich kann das Management aber auch nur sehr begrenzt gegen breite Überzeugungen der Eigner agieren und muss in all seinen Außenbeziehungen mit Kunden, Lieferanten, Partnern, Standortträgern und -nachbarn, Banken und dem sonstigen Betriebsumfeld auf seine Reputation achten. Unternehmen sind in jeder Beziehung vom öffentlichen Meinungsbild abhängig und müssen stets mit direkten wirtschaftlichen Folgen von negativer Publicity rechnen. (Siehe zum Beispiel die Umsatzeinbußen von Bayer/Monsanto wegen des Festhaltens am Unkrautvernichter Roundup/Glyphosat, was in der Öffentlichkeit mehrheitlich verurteilt wurde, trotz offizieller Zulassung in der EU und trotz der Beurteilung durch das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung, dass Glyphosat entgegen dem herrschenden Vorwurf bei „bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung nicht krebserzeugend“ ist, basierend auf einer »umfassende[n] Bewertung des Pflanzenschutzmittelwirkstoffs durch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und zahlreiche andere nationale und internationale Behörden.)

Nicht vertieft, aber auch nicht unterschlagen werden soll an dieser Stelle, dass einzelne institutionelle Anleger auf dem Kapitalmarkt spekulative Strategien verfolgen, die kurzfristige Gewinnmaximierungen befeuern und auf nachhaltige Geschäftsentwicklungen nur nachrangig Wert legen. Leerverkäufe, Hochfrequenzhandel, Geschäfte mit mehrfach verschachtelten Derivaten sind oft weit davon entfernt, noch irgendeinen Zusammenhang mit der realen Güterproduktion zu haben. Nicht selten ist es reines Kasino. Das ist keine Soziale Marktwirtschaft.

Shareholder-Value kein Teufelswerk

Die Übertreibung eines Systems erfordert aber das Einhegen der Übertreibung und nicht die Revision des Systems. Der Shareholder-Value ist dementsprechend kein Teufelswerk, sondern die entscheidende Kopfkennzahl eines Unternehmens, denn letztlich ist nur ein profitabler Betrieb marktwirtschaftlich überlebensfähig und dementsprechend gemeinwohlförderlich.

Das Stakeholder-Konzept fordert nun im Kontrast zum Shareholder-Value, dass alle Interessen der am Unternehmen Beteiligten gleichermaßen berücksichtigt werden. Unterstellt wird dabei, dass das unternehmerische Gewinnstreben nicht alle Interessengruppen berücksichtigt. Statt Gewinnorientierung wird eine multidimensionale Zielfunktion gefordert, die alle begründeten Interessen umfasst, also die von Anteilseignern, Management, Arbeitnehmern, Partnern, Gläubigern, Zulieferern, Kunden, öffentlicher Hand und eventuell auch Nachbarn, Verbänden und Interessenvertretungen etc. Bekundete Interessenkonflikte müssten dann in Abstimmung geschlichtet werden.

Das stellt den ganzen Wirtschaftszusammenhang auf den Kopf. Anbieter und Kunden tauschen mit Angebot und Nachfrage Leistung und Gegenleistung aus – Umsatz/Gewinn gegen Nutzen. Alle anderen Interessen können nur bedient werden, wenn es zu diesem Prozess kommt, sind dem also unweigerlich untergeordnet. Das Endprodukt ist Zweck allen Wirtschaftens. Der Nutzen des Endproduktes ist der einzige Sinn allen Wirtschaftens. Vom Endkundengeschäft hängen alle Wirtschaftsaktivitäten ab und die weiteren Interessen werden dann tiefer gestaffelt entweder ebenfalls über Angebot und Nachfrage auf Zuliefer- oder Faktormärkten ausgeglichen oder über staatliche Umverteilung per Steuern und Abgabe. Damit sind auch ohne Stakeholder-Orientierung in jedem sozial-marktwirtschaftlichen Prozess alle Interessengruppen im Wertschöpfungsprozess berücksichtigt und durch den Wettbewerb auf den Märkten fair, also nutzengerecht, entgolten. Wenn im Ausnahmefall ein Interessenausgleich nicht über Märkte organisiert werden kann, regelt der Staat das per Wirtschaftsordnung (z. B. Internalisierung negativer externer Effekte).

Der marktwirtschaftliche Prozess des Interessenausgleiches und die klare Zuordnung von Risiko und Haftung zu Unternehmer/Eigner legt eindeutig fest, wem Ziel- und Entscheidungsbefugnis zuzugestehen ist. Wer schafft, schafft an. Wie der Unternehmer/Eigner das organisiert, ist seine Sache. Erfolgreich wird er allerdings nur sein, wenn die nachgeordneten Leistungsträger ihre eigenen Interessen ausreichend berücksichtigt sehen – sei es durch angemessenes Entgelt, aber zum Beispiel auch durch Sicherheit oder die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb an sich ist ein Stakeholder-Konzept, das dem Shareholder-Value folgt.

Es mag sein, dass manche weltweiten Großkonzerne sich das erst noch ausdrücklich auf die Fahnen schreiben müssen. Wenn auch schon im Vorlauf des WELT-Wirtschaftsforums beim Davoser Weltwirtschaftsforum von „Stakeholder Capitalism“ gesprochen wurde, zeugt das davon. Es zeigt aber auch, dass eben genau der ökonomische Druck, der allgemeinen Nützlichkeit unterworfen zu sein, selbst bei denen früher oder später ankommt, die sich organisatorisch eigentlich durchaus um Verantwortung drücken können (insbesondere durch die globale Ausnutzung von Marktmacht und rechtsfreien Räumen). Sogar ohne einen globalen Wettbewerbsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft binden die Wirkmechanismen der Marktwirtschaft selbst die mächtigsten Wirtschaftsakteure.

Wenn man in Davos und in Berlin aber vollkommen das Verständnis für die eigene Rolle verliert und Manager anstatt einer persönlichen Haftung für ihr unternehmerisches Tun – die tatsächlich annähernd vollständig fehlt – eine politische Verantwortung für die ganze Gesellschaft hervorkehren, dann sollten die Alarmglocken anspringen. Denn en passant wird hier vermischt, wer den Rahmen gibt und wer darin agiert – wer Schiedsrichter ist und wer Spieler. Stakerholder-Kapitalismus wird dann leicht zum Konzern-Kapitalismus, weil keine andere Organisationsform von Unternehmen die überzogenen politischen Erwartungen an Betriebe erfüllen kann.

Wem helfen nicht profitable Unternehmen?

Die Stakeholder-Value-Definition ist Aufgabe der demokratisch legitimierten Rahmensetzer. „Wohlstand für alle“ hat das Ludwig Erhard früher schlicht genannt. Und wenn der Rahmen klug gesetzt ist, dann besteht ausreichend Freiheit, dass Unternehmen mit Risikobereitschaft, Engagement, Innovationen und Effizienz Nutzen schaffen und der Gesetzgeber darauf achtet, dass dabei möglichst wenig/kein anderer öffentlicher Nutzen vernichtet wird und die Finanzierung öffentlicher Aufgaben gelingt. Erst wenn jeder Schuster bei seinem Leisten bleibt – Staat beim Stakeholder-, Unternehmen beim Shareholder-Value – entsteht ein Meisterwerk.

Das verbietet ausdrücklich niemandem, sich nicht auch von persönlichen Vorstellungen leiten zu lassen und über das originär Unternehmerische hinaus Verantwortung zu übernehmen. Und wie jeder Bürger trägt er damit auch zur öffentlichen Meinungsbildung bei und gestaltet somit auch demokratisch die Rahmengebung mit. Es ist aber niemandem geholfen, wenn darüber die originäre Aufgabe der effizienten Bedürfnisbefriedigung vernachlässigt wird. Was hilft der Welt ein Unternehmen, das verantwortungsbewusst ist, aber nicht profitabel wirtschaftet, ergo absehbar wieder vom Markt verschwindet? Der beste Weg, wie sich ein Unternehmen den Stakeholdern verpflichten kann ist erfolgreich zu sein. Und sich dabei an die Regeln halten – darum sollten sich Großkonzerne vielleicht besser kümmern als um die Entstehung eines neuen Stakeholder-Kapitalismus.

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