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Alternde Gesellschaft: Zeit zu handeln

Der demografische Wandel ist Fakt – und trotzdem stecken die großen Parteien im Bundestagswahlkampf den Kopf in den Sand. Angesichts der guten wirtschaftlichen Lage – und weil das Problem nicht kleiner, sondern immer größer wird – ist jetzt die Zeit zu handeln, mahnt Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln.

Wer den Politikern der großen Parteien im Wahlkampf zuhört, könnte den Eindruck gewinnen, es gäbe momentan keine großen wirtschaftspolitischen Aufgaben. Als ginge es nur um das Verwalten des Wohlstands, wird ein bisschen über Umverteilung hier, ein wenig über Steuererleichterungen dort diskutiert. Zukunftsweisende Ideen, langfristige Strategien? Fehlanzeige.

Tatsächlich gibt es derzeit wenig Grund zur Klage: Die Beschäftigung liegt auf Rekordniveau, die Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung, die öffentlichen Haushalte erzielen Überschüsse. Sogar die Staatsverschuldung ist erstmals wieder auf unter zwei Billionen Euro gesunken. Auch die Aussichten für die nächsten Jahre sind positiv.

Und dennoch: Gerade jetzt ist es Zeit zu handeln. Die kommende Legislaturperiode wird die letzte sein, in der Deutschland in demografischer Hinsicht gut dasteht. Denn die Generation der Babyboomer ist dann überwiegend noch erwerbstätig. Danach werden die geburtenstarken Jahrgänge, geboren zwischen Mitte der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, nach und nach in Rente gehen. Da zudem die Lebenserwartung steigt, wird sich der Anteil der über 67-Jährigen an der Gesamtbevölkerung bis 2035 von derzeit knapp 18 auf rund 26 Prozent erhöhen. Die nach wie vor hohe Zuwanderung führt zwar dazu, dass die Gesamtbevölkerung in Deutschland – anders als lange erwartet – vorerst nicht schrumpft, sondern voraussichtlich bis Mitte der 2020er Jahre wachsen wird. Die Verschiebung der Altersstruktur können die überwiegend jungen Zuwanderer aber kaum ausgleichen.

Die Alterung der Gesellschaft ist das zentrale Problem

Erstens erschwert das Altern der Bevölkerung die Finanzierung der Sozialkassen. Zweitens schmälert es Deutschlands Wachstumsperspektiven. Denn auch wenn sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Menschen überaus positiv entwickelt, geht die Gesamtzahl der Erwerbstätigen deutlich zurück. Den Schätzungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln zufolge verliert der deutsche Arbeitsmarkt in den nächsten zwei Jahrzehnten rund zwei Millionen Arbeitskräfte. Dadurch halbiert sich das erwartete Wachstumsniveau.

Um diesen Effekt abzumildern, braucht es Reformen. Der wichtigste Ansatzpunkt dafür ist das Arbeitsvolumen – die insgesamt in Deutschland geleistete Arbeitszeit muss erhöht werden. Und zwar so:

Die Erwerbsbeteiligung von Müttern steigern

Der erste Baustein ist eine höhere Erwerbsbeteiligung. Allerdings ist der Spielraum dafür angesichts der ohnehin schon guten Beschäftigungssituation und der seit dem Jahr 2000 erreichten Fortschritte begrenzt. Potenzial gibt es noch bei der Erwerbsbeteiligung von Müttern, die nach wie vor die Hauptlast der Erziehungsarbeit tragen. Damit Frauen nach der Geburt wieder früher arbeiten können, müssen die Betreuungsangebote weiter verbessert werden. Auch monetäre Anreize sind wichtig. So hat das Elterngeld tatsächlich zu einer früheren Rückkehr in den Beruf beigetragen.

Das Renteneintrittsalter heraufsetzen

Doch eine geringfügig höhere Erwerbsbeteiligung wird nicht reichen. Die wichtigste Stellschraube im Umgang mit dem demografischen Wandel ist das Renteneintrittsalter. Wenn ein Mann 1970 mit 65 Jahren in den Ruhestand ging, hatte er im Durchschnitt noch knapp 14 Jahre seines Lebens vor sich, bei Frauen waren es gut 16 Jahre. Bei heutigen 65-Jährigen beträgt die sogenannte fernere Lebenserwartung für Männer knapp 18 Jahre und für Frauen knapp 21 Jahre – eine Entwicklung, die allen Prognosen zufolge anhalten wird. Um wirtschaftlich weiter zu prosperieren, müssen wir einen Teil der gewonnenen Lebenszeit zu Arbeitszeit machen. Die Rente mit 67 teilweise wieder zurückzudrehen war deshalb das völlig falsche Signal.

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist nicht nur für die Wachstumsperspektiven entscheidend, sondern auch eine sozialpolitische Notwendigkeit, wenn der Lebensstandard im Rentenalter gehalten werden soll und gleichzeitig die Beitragssätze konstant bleiben sollen. Das ist keine Frage der politischen Einstellung, sondern der mathematischen Logik. Dennoch ist die Diskussion darüber in Deutschland leider so aufgeheizt, dass sich derzeit keine Partei traut, das Rentenalter anzutasten.

Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit aufstocken

Ähnlich heikel wie die Diskussion über den Rentenbeginn, aber genauso notwendig ist jene über die Jahresarbeitszeit. Mit durchschnittlich rund 1 360 jährlich geleisteten Arbeitsstunden liegt Deutschland mehr als 20 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt. Das liegt zum Teil an einer im internationalen Vergleich relativ geringen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten. Der Hauptgrund aber ist, dass der Anteil der Teilzeitbeschäftigten überdurchschnittlich hoch ist. Dabei kann es durchaus im Sinne der Arbeitnehmer sein, mehr zu arbeiten, wenn die finanziellen Anreize stimmen.

Noch wichtiger als Geld dürfte aber eine größere Flexibilität sein: Die Digitalisierung macht es in vielen Bereichen möglich, zu Hause oder unterwegs zu arbeiten. Dadurch lassen sich Arbeits- und Familienleben sehr viel leichter miteinander vereinbaren. Das Arbeitszeitgesetz setzt dem mobilen Arbeiten derzeit jedoch noch zu starre Grenzen. Das muss sich ändern. Die gewonnene Flexibilität könnte dann dazu beitragen, dass mehr Beschäftigte bereit sind, ihre Arbeitszeit zu aufzustocken. Dass die Große Koalition hier nichts geliefert hat, ist mehr als peinlich.

Die Politik steckt den Kopf in den Sand

In den Wahlprogrammen der großen Parteien sucht man ein wirtschaftspolitisches Konzept zur Bewältigung des demografischen Wandels jedoch vergebens. Im Programm der Union spielt das Thema überhaupt keine Rolle. Bei der SPD wird die demografische Entwicklung zwar an mehreren Stellen angesprochen. Aber mit Ausnahme der Überlegungen zu einem neuen Zuwanderungsgesetz sind zukunftsweisende Lösungsansätze nicht in Sicht. Nach der völlig fehlgeleiteten Reform der Rente mit 63 überrascht das wenig.

Die SPD schließt eine erneute Anhebung des Renteneintrittsalters kategorisch aus. Gleichzeitig will sie ein gesetzlich festgelegtes Rentenniveau von 48 Prozent und einen Beitragssatz von höchstens 22 Prozent garantieren. Finanzieren soll das der Steuerzahler. Angesichts der Tatsache, dass der Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt derzeit so hoch ist wie seit knapp 30 Jahren nicht mehr, ist das eine verquere Forderung. Es ist Zeit für eine steuerliche Entlastung, nicht für weitere Belastung der Bürger.

Der Handlungsspielraum schrumpft

Es ist viele Jahre her, dass die Wissenschaft die Alterung der Gesellschaft als Problem identifiziert hat. Doch bei allem Fortschritt bleibt noch immer viel zu tun. Es ist wohl ein unauflösbares Dilemma für die parlamentarische Demokratie, dass die wirklich schwerwiegenden Probleme meist über eine Legislaturperiode hinausreichen.

Dieses Schicksal teilt der demografische mit dem klimatischen Wandel. Doch während Letzterer nur auf globaler Ebene bekämpft werden kann, lässt sich mit den Folgen der alternden Gesellschaft auf nationaler Ebene umgehen. Die Zeit dafür ist allerdings begrenzt. Wenn sich der demografische Wandel bereits im Wirtschaftswachstum und in den Sozialkassen niederschlägt, ist der Handlungsspielraum wesentlich geringer. Denn je länger man wartet, desto schwieriger und teurer wird es, der Alterung etwas entgegenzusetzen – auch deshalb, weil sich viele notwendige Maßnahmen, etwa die Erhöhung des Renteneintrittsalters, nur schrittweise einführen lassen.

Dass die Beschäftigung in der kommenden Legislaturperiode wohl noch einmal zulegen wird, ist kein Grund zur Beruhigung, sondern Auftrag zum Handeln. Die guten Bedingungen müssen jetzt genutzt werden, um Deutschlands wirtschaftliche Zukunft im demografischen Übergang zu sichern.

Dieser ÖkonomenBlog-Beitrag basiert auf einem Gastkommentar im Handelsblatt.

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