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Wie sieht die Soziale Marktwirtschaft von morgen aus?

Gilt Ludwig Erhards Leitsatz „Wohlstand für alle“ auch für die Soziale Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts? Ist sie nach wie vor das geeignete System, das Wachstum, Teilhabe und Nachhaltigkeit ermöglicht? Im Prinzip ja, meinen die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Buches. Nur bedarf sie dringend der Feinjustierung.

„Soziale Marktwirtschaft am Scheideweg“, „Mehr Ludwig Erhard bitte!“, „Sozial-ökologische Marktwirtschaft“, „Der Staat als Versager und Retter zugleich“, „Soziale Marktwirtschaft erneuern!“ – so lauten einige Forderungen und Thesen des rund 290-seitigen Essay-Sammelbandes, der nun mit dem Titel „Neue Herausforderungen der Sozialen Marktwirtschaft“ im Auftrag des Wirtschaftspolitischen Club Deutschland (WPCD) erschienen ist. Dem Herausgeberduo Ansgar Tietmeyer und Patricia Solaro (beide im WPCD-Präsidium) geht es um die Einordnung der Sozialen Marktwirtschaft in die heutige wirtschaftspolitische Wirklichkeit. Ob Digitalisierung, Klimawandel, Globalisierung, demografischer Wandel oder staatliche Verschuldung – stets dreht sich in den 26 Beiträgen und wissenschaftlichen Referaten alles um die Frage, wie zeitgemäß unser Wirtschaftsmodell noch ist, was sich ändern und was dringend bleiben muss.

Schnell wird bei der Lektüre klar: Die Aufgaben und zukünftigen Herausforderungen sind komplex – und genauso unterschiedlich wie die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Buches. Sie bilden einen vielstimmigen Chor aus Mitgliedern von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP sowie Wirtschaft, Gewerkschaft und Wissenschaft.

Freiheit des Einzelnen

Ludwig Erhard soll zum Ende seines Lebens bekannt haben, dass die ansonsten sehr erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft für ihn in einem Punkt gescheitert war: Seine Erwartung, dass Menschen mit zunehmendem Wohlstand ihr Leben auch zunehmend eigenverantwortlich wahrnehmen, habe sich nicht erfüllt. Und tatsächlich: Auch heute mangelt es zunehmend an der Eigenverantwortung des Einzelnen – der Bürger hat es sich im Schoß von Vater Staat bequem gemacht und erwartet immer mehr von ihm, ohne selbst dafür etwas zu leisten.

Grund genug, um über eine Neujustierung der Sozialen Marktwirtschaft nachzudenken. Für den Unionspolitiker Carsten Linnemann gibt es drei entscheidende Faktoren: „Einen offenen Leistungswettbewerb, die konsequente Koppelung von Freiheit des Einzelnen mit der Haftung für die damit verbundenen Risiken und einen schlanken und starken Staat.“ Davon müssten die Menschen wieder überzeugt werden, meint Linnemann. Allerdings, ergänzt die Grünen-Politikerin Katharina Dröge, bräuchten wir heute auch ein System, das die Wirtschaft für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft so ausrichtet, „dass wir den Klimawandel ausbremsen können“. Dazu sei ein Staat vonnöten, „der gestaltet und Räume für die Transformation schafft“.

Das Ziel, spätestens im Jahr 2050 komplett klimaneutral zu sein, ist durchaus realistisch, meint der SPD-Abgeordnete Bernd Westphal. Denn der politische Wille, klimafreundliche Technologien für den sozial-ökologischen Umbau einzusetzen, gewinne auch auf internationaler Ebene immer mehr Zustimmung. Doch das Geld für diesen Umbau muss erst verdient werden.

Deswegen geht für den FDP-Bundestagsabgeordneten Michael Theurer nichts ohne wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Aus ihr erst erwächst Wohlstand und damit auch die Chance auf eine erfolgreiche Weiterführung der Sozialen Marktwirtschaft. Er fordert „weniger Subventionen, weniger Quoten, mehr Freihandel, weniger Verbote und nach Möglichkeit auch weniger Steuern, welches wiederum Investitionen in Kapital und Köpfe attraktiv macht“.

Politik der Ausgabenkontrolle

Die nach der Corona-Krise notwendige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ist für Lars Feld eine der dringlichsten Herausforderungen, der wir uns stellen müssen. Der Professor für Wirtschaftspolitik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg erwartet aus ordnungspolitischer Sicht in den nächsten Jahren eine „Politik der Ausgabenkontrolle, vor allem angesichts der demografischen Entwicklung“. Das Ausgabenwachstum sollte hinter dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts zurückbleiben. Steuererhöhungen sollten hingegen unterbleiben, gerade wenn es auf den Beitrag des Wirtschaftswachstums für die Konsolidierung ankommt.

Doch ist die Soziale Marktwirtschaft überhaupt genug gewappnet, uns weiterhin zu hohem Wohlstand und sozialem Ausgleich zu führen? Belege dagegen gebe es nicht, meint Andreas Freytag, Professor für Wirtschaftspolitik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er hält die Soziale Marktwirtschaft sogar für ein flexibles Modell, das auch der Wirtschaftspolitik anderer Länder dienlich sein könnte.

In Sachen Digitalisierung kann die Bundesrepublik allerdings kaum ein Vorbild sein, meint Justus Haucap, Direktor des Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Das Land habe bei der Digitalisierung (spätestens in der Corona-Krise) in vielen Bereichen den Anschluss verloren. Haucap fordert eine systematische Aufarbeitung der Hindernisse für die Digitalisierung. Erst dann könne eine innovationsfreundliche Politik entstehen.

Vertrauen zurückgewinnen

Für Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln, ist die Frage entscheidend, wie in einer sozial fragileren Welt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Institutionen, in Regelwerke und Verfahren und damit letztlich in die Soziale Marktwirtschaft gestärkt und neu begründet werden kann. „Der Verlust an institutionellem Vertrauen hat […] damit zu tun, dass die Menschen zunehmend ungewählte Mächte erleben. Das führt zu der Einschätzung, dass die Regeln und Verfahren an Bedeutung […] und die Regelgerechtigkeit und Verfahrensgerechtigkeit als zentrale Säulen der Ordnungsökonomik an Kraft verloren haben.“ Soziale Marktwirtschaft sei zukünftig ohne demokratische Einbettung und zivilgesellschaftliche Mitgestaltung nicht denkbar.

Mitmachen ist also angesagt. Doch Hilfe zur Selbsthilfe muss sich lohnen, meint Bernd Raffelhüschen, Professor für Finanzwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. „Da jeder Mensch etwas kann, ist das Prinzip des Förderns und Forderns zu stärken. Wer sich bemüht, sich selbst zu helfen, wird belohnt; wer sich verweigert, erhält allein Sachleistungen in Höhe des Existenzminimums.“

Im Sinne des Forderns und Förderns werden auch Unternehmen ihre Hausaufgaben machen müssen, erklärt Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Ohne eine starke industrielle Basis werde das aber nicht gelingen. Russwurm empfiehlt infolge der Pandemie einen „Re-Start“ der Industrie. Damit impliziert er auch „ein Ausscheiden erfolgloser Unternehmen aus dem Markt, denn nur so kann der Wettbewerb auf den Produktmärkten auch Wohlstand schaffen“. Es gelte, aus alten Fehlern zu lernen, die vorhandenen Potenziale zu nutzen und auf nachhaltige Beziehungen zu setzen.

Unternehmerische Eigenverantwortung

Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), rät, in eine neue Phase der Sozialen Marktwirtschaft einzutreten, „in der das Verhältnis von Staat und (unternehmerischer) Eigenverantwortung wieder richtig zur Bewältigung der großen Herausforderungen justiert wird“. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass innovatives Unternehmertum in schnellstmöglicher Zeit zur Problemlösung durch Entwicklung ganz unterschiedlicher Impfstoffe beitragen“ kann.

Ob die Soziale Marktwirtschaft für uns Deutsche tatsächlich die beste aller möglichen Welten bleibt, wird davon abhängen, inwieweit Vertrauen und Transparenz in das System wachsen und wie intensiv der Zusammenhalt zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft weiterhin gelebt werden kann. Geht es nach der Unternehmerin Bettina Würth, sollte es „unser Ziel sein, über Vertrauen und Zusammenhalt ein Deutschland zu schaffen, das auch den Gründergeist der 1950er-Jahre wiederentdecken kann – junge, innovative Start-ups, wie derzeit in der Digital- und Biotechnologiebranche, müssen in Deutschland wieder eine echte Chance bekommen, zu Global Playern heranzuwachsen.“ Das Rad komplett neu zu erfinden, sei nicht nötig, um Deutschland wieder auf Kurs zu bringen, meint Würth. Wichtiger sei es, „dass wir uns bewusst machen, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen und wie wir die Chancen, die sich ergeben, mit Mut und Vertrauen in die Funktionsfähigkeit […] der Sozialen Marktwirtschaft in gezielte Erfolge umwandeln“.

Fazit

Ein gedanken- und themenreicher Essayband, den jeder Wirtschaftsgestalter und -politiker zu seiner Pflichtlektüre machen sollte. Die Diskussion um die Funktionserweiterung und Feinjustierung der Sozialen Marktwirtschaft ist noch lange nicht beendet. Aber dieses Buch ist ein vielseitiger Impulsgeber.

Ansgar Tietmeyer, Patricia Solaro (HG): Neue Herausforderungen der Sozialen Marktwirtschaft – das deutsche Wirtschaftsmodell in einer globalisierten, digitalen, sozial wie ökologisch fragilen Welt, Springer-Gabler-Verlag, Stuttgart 2021

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