Inzwischen hat sich die Situation erfreulicherweise geändert. Deutschland genießt einen konjunkturellen Aufschwung und hohe Wachstumsraten, die Steuereinnahmen sind bei Bund, Ländern und Gemeinden entsprechend gestiegen. Die Grundregeln der antizyklischen Finanzpolitik verlangen jedoch, dass konjunkturell bedingte Mehreinnahmen zum Abbau des Haushaltsdefizits eingesetzt werden. Würde man damit dagegen sogleich wieder Mehrausgaben oder Steuersenkungen finanzieren, würde man die asymmetrische Finanzpolitik vergangener Jahre fortsetzen: Defizitaufbau bei schlechter Konjunktur, aber kein entsprechender Abbau in guten Zeiten. Diese „Strategie“ hat sicher zu der hohen strukturellen Verschuldung in den öffentlichen Haushalten beigetragen.
Derzeit liegen die Dinge aber etwas anders: Die jetzt angefallenen und in Zukunft zu erwartenden Steuermehreinnahmen könnten sich nicht nur als konjunkturell bedingt, sondern als dauerhaft erweisen. Dafür sprechen die hohen und nach allen Prognosen auch anhaltenden Wachstumsraten, die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt und die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Dauerhafte Steuermehreinnahmen dürfen jetzt für Steuersenkungen eingesetzt werden; übrigens wäre das der Verwendung für zusätzliche Ausgaben (vor allem für die neuerdings wieder ins Kraut schießenden Subventionen) eindeutig vorzuziehen. Die Konsolidierung, also der Abbau der strukturellen Defizite, muss dadurch nicht gefährdet werden.
Der Umfang für mögliche Steuersenkungen dürfte jedoch derzeit höchstens zwischen 8 bis 10 Milliarden Euro liegen. Damit sollte man vor allem die mittleren und unteren Einkommen entlasten; eine Korrektur des Steuertarifs (Abbau der „kalten Progression“) wäre schon der richtige Weg. Nur tut sich dabei sofort ein anderes Problem auf. Eine Änderung der Einkommensteuer verlangt die Zustimmung des Bundesrates, in dem die die Bundesregierung tragenden Parteien keine Mehrheit haben. Schon jetzt liegen Bekundungen vor, dass manche Landesvertreter jedes Steuersenkungsprogramm der Bundesregierung im Bundesrat scheitern lassen wollen. Um überhaupt Erfolge zu erreichen, muss möglicherweise die Steuersenkung solche Abgaben betreffen, deren Änderung nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Das wäre zum Beispiel die Senkung des Solidaritätszuschlags, dessen Aufkommen von etwa 12 Milliarden Euro (2010) dem Bund allein zusteht. Das ist ökonomisch wohl die schlechtere Lösung, weil die Bezieher sehr niedrige Einkommen damit gar nicht entlastet werden können; sie zahlen nämlich keinen Solidaritätszuschlag. Aber politisch ist offenbar im Augenblick eine andere Steuersenkung wegen des Widerstands im Bundesrat gar nicht durchsetzbar. Am Ende mag deshalb die aktuelle Diskussion um eine „kleine“ Steuerreform schnell wieder beendet sein und erneut ausgehen wie das Hornberger Schießen.
Der Autor ist em. o. Professor für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen.
Weiter Informationen:
*Michael Hüther: Mit der Steuersenkung weiter konsolidieren – Handelsblatt vom 24./25.06.2011
*Ralph Brügelmann: Die Progression schlägt kalt zu! – Ökonomenblog vom 22.06.2011