Steuern und FinanzenTagged , , , , ,

Staatsschulden rechnen sich strukturell nicht!

Vor rund fünf Jahren haben Bundestag und Bundesrat jeweils mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit die neue Schuldenbremse ins Grundgesetz aufgenommen. Die Überzeugungen, die damals die Politik leiteten, sind heute wieder in Erinnerung zu rufen. Staatsschulden rechnen sich strukturell nicht. Die Schuldenbremse und das europäische Stabilitätsrecht schützen die Freiheit, die Wirtschaftskraft und die Handlungsfähigkeit des Staates sowie der Europäischen Union. Diese Institutionen sind gerade in den gegenwärtigen Krisenzeiten von großer Bedeutung. Die Begrenzung der Staatsverschuldung dient zudem der nächsten Generation, der bereits zu viele Lasten aufgebürdet wurden.

Bundestag und Bundesrat haben im Jahr 2009 die neue Schuldenbremse in Kraft gesetzt. Die für die Verfassungsänderung jeweils notwendige Zweidrittelmehrheit verdeutlicht den breiten politischen Konsens, der dieser Reform zu Grunde lag. Dieser Konsens ist wieder in Erinnerung zu rufen. Denn gegenwärtig werden unterschiedliche Vorschläge unterbreitet, die Schuldenbremse aufzuweichen. So wird u.a. erwogen, der Staat solle über Kredite sog. Investitionen finanzieren, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen. Diese Vorschläge aber missachten Wirkungen von Staatsschulden und die Erfahrungen, die Deutschland in den letzten 50 Jahren mit dem Staatsschuldenrecht gemacht hat. 

„Die alte Investitionsgrenze hat die Staatschulden nicht begrenzt, sondern von rund 63 auf 1.600 Mrd. Euro ansteigen lassen.“

Vor dem Inkrafttreten der neuen Schuldenbremse durften gem. Art. 115 GG a.F. Investitionen und die Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch Kredite finanziert werden. Die Tatbestände begrenzten die staatlichen Kredite aber nicht. Vielmehr öffneten sie einer stetig steigenden Staatsverschuldung das Tor. Die Schulden Deutschlands erhöhten sich von maßvollen rund 63 Mrd. Euro zum Ende des Jahres 1970 auf rund 1.600 Mrd. Euro bis zum Inkrafttreten der neuen Schuldenbremse.

Diese Entwicklung und die europäische Staatsschuldenkrise veranlassten die Föderalismusreform II, eine striktere Schuldenbremse in Kraft zu setzen. Die kontinuierliche Erhöhung der Staatsverschuldung sollte verlässlich gestoppt werden. Erstmals ordnet das nationale Verfassungsrecht an, die Haushalte des Bundes und der Länder materiell auszugleichen. Das Junktim zwischen Investitions- und Verschuldungssummen wurde bewusst aufgegeben. Es hatte die Verschuldung nicht beschränkt, sondern kontinuierlich erhöht. An die Stelle des Junktims ist die Gegenseitigkeit zwischen dem gegenwärtigen Steueraufkommen und der Ausgabenbereitschaft des Staates getreten. 

Den Paradigmenwechsel im Umgang mit den Staatsschulden und das politische Umdenken mag der Rücktritt des Finanzministers Alex Möller im Mai 1971 verdeutlichen. Möller wollte eine Kreditaufnahme des Bundes von umgerechnet weiteren rund 8 Mrd. Euro nicht verantworten. Er trat zurück, weil er „alle Fraktionen des Bundestages wieder […] auf den Weg der finanzpolitischen Solidität“ zurückführen wollte, damit „Solidität und Stabilität als die beiden Grundforderungen deutscher Innenpolitik beachtet werden.“ Kein Finanzminister ist seitdem aus vergleichbaren Motiven zurückgetreten, obgleich sich die beschriebenen Gefahren intensiviert haben. Eine Ironie der Geschichte besteht darin, dass die aktuelle Schuldenbremse des Grundgesetzes dem Bund erlaubt, Kredite in Höhe von 0,35 Prozent des BIP aufzunehmen. Dies entspricht gegenwärtig rund 12 Mrd. Euro und damit mehr als den Schulden, die Möller zum Rücktritt bewegten.

Staatsschulden dürfen gem. Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG nur in vier Ausnahmefällen aufgenommen werden. Der Bund kann sich – erstens und wie bereits genannt – ohne weitere Begründung jährlich in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) durch Schulden finanzieren. Bund und Länder dürfen – zweitens– ganz im Sinne John Maynard Keynes konjunkturbedingte Kredite aufnehmen, um die Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung im Auf- und Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen. Die Kredite sind nach der Krise konjunkturgerecht zurückzuführen. Drittens dürfen in Fällen von Naturkatastrophen und – viertens – von außergewöhnlichen Notsituationen, die sich beide der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, die notwendigen finanziellen Gegenmaßnahmen durch Schulden finanziert werden. Müssen Menschen eine Krise wie die Pandemie meistern, sollen sie nicht auch noch durch höhere Steuern belastet werden, um Gegenmaßnahmen zu finanzieren. Doch auch dann sind die Kredite in angemessener Zeit zu tilgen, damit sich die Staatsschulden und die mit diesen verbundenen Abhängigkeiten vom Finanzmarkt nicht – wie in der Vergangenheit – kontinuierlich erhöhen. 

„‘Next Generation EU‘ – doch eine Generationenbilanz kann Kredite nicht rechtfertigen.“

Oft wurde und wird versucht, entgegen diesen klaren Vorgaben des Grundgesetzes staatliche Kredite in einer Art Tauschgerechtigkeit zwischen den Generationen zu rechtfertigen. Die europäischen Schulden in Höhe von rund 800 Mrd. Euro tragen diesen Gedanken in ihrem Titel: „Next Generation EU“: Würden heute Investitionen über Kredite finanziert, könnten morgen Ernten eingefahren werden. Doch ist vorprogrammiert, dass dieses Versprechen enttäuscht wird. So können kaum Ernten beschrieben werden, die durch die gegenwärtig rund 2.500 Mrd. Euro an expliziten Staatsschulden in Deutschland bewirkt wurden. Wer prüft, wie die europäischen Kreditmittel ausgegeben werden, in dem reift der Verdacht, dass auch hier die angekündigten Ernten ausbleiben werden.

Der Gedanke, der Zukunft durch besondere Leistungen zu dienen, war in der jüngeren deutschen Geschichte vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg greifbar. Das Land lag in Trümmern und musste wieder aufgebaut werden. Sodann gelang es im Wirtschaftswunder, Deutschland auf einen nachhaltigen Pfad des Wohlstands zu führen. Dieser Gründergeist bietet auch heute ein Vorbild. Den Menschen kam damals nicht in den Sinn, die nächste Generation müsse die Leistungen der Politik über Schulden finanzieren, weil sie von diesen Leistungen profitiere. Staatliche Kredite wurden nur äußerst maßvoll aufgenommen. Die Leistungen wurden in der Gegenwart erbracht und finanziert. 

Ohnehin wäre die Generationenbilanz, mit der gegenwärtig Schulden für sog. Investitionen und in „Next Generation EU“ begründet werden sollen, nur vollständig, wenn auch die Lasten berücksichtigt würden, die bereits in die Zukunft verschoben wurden. Dann aber kann die Bilanz Kredite erkennbar nicht begründen. Die Lasten sind deutlich zu hoch, weil erheblichen Tilgungs- und Zinspflichten, dem Sicherheitsanliegen, dem Klimawandel, Fragen nach Flucht und Vertreibung und der demografischen Entwicklung mit dem Fachkräftemangel und der tiefen Sorge um die Sozialsysteme zu begegnen ist, Infrastrukturen zu erneuern und Abhängigkeiten von anderen Staaten insbesondere in den Bereichen der Sicherheit, der Medizin und der Rohstoffe zu reduzieren sind. Der nächsten Generation sind keine weiteren Lasten aufzubürden, sondern Freiräume zu schaffen. 

Schließlich überzeugt auch eine vollständige monetäre Bilanz der Generationenbeziehung nicht. Kinder müssen nicht Miete zahlen oder Tilgungslasten übernehmen, weil sie in jungen Jahren im Elternhaus wohnen und dieses später erben. Der Leitgedanke des Grundgesetzes, der Gesellschaft und der Politik ist ersichtlich ein anderer. Der Fortschritt ist nicht von der kommenden Generation zu finanzieren, sondern um seiner selbst willen fortzuschreiben.

„Staatsschulden sind strukturell defizitär – der unternehmerische Investitionsbegriff greift für die öffentliche Hand nicht.“

Der moderne Staat finanziert sich zuvörderst durch Steuern und erwirtschaftet kaum Gewinne. Kredite können daher – anders als z.B. bei privaten Unternehmen – nicht mit zukünftigen Erträgen begründet werden. Wenn ein Unternehmen eine neue Produktionsanlage über Schulden finanziert, ermöglichen ihm die Gewinne die Tilgung. So rechnet sich ein Kredit mit Zinsen langfristig. Eine solche Rechnung greift für den modernen Staat aber nicht, weil seine Schulden die Steuereinnahmen nicht unmittelbar erhöhen. Selbst wenn z.B. öffentliche Ausgaben für Infrastrukturen unmittelbar zu höheren Steuereinnahmen führen sollten, verlangen sodann Reparaturen, Erweiterungen und Erneuerungen, aber auch die zentralen Aufgaben der Sicherheit, des Rechtsstaats und der Daseinsvorsorge weitere steuerfinanzierte Ausgaben. Der unternehmerische Investitionsbegriff greift für den Staat nicht, weil dieser kein Geld aufwendet, um Gewinne zu erzielen. Die Gesamtbilanz staatlicher Kredite ist strukturell negativ.

„Der für die Politik so verführerische Staatskredit muss in der Demokratie die Ausnahme sein.“

Dennoch werden in den gegenwärtigen Krisenzeiten Kredite als ein geeignetes Finanzinstrument verstanden. Diesen Befunden liegt zuweilen die Annahme zu Grunde, staatliche Schulden seien nicht zurückzuzahlen. Doch sind Darlehen keine Schenkungen mit Zinspflicht. Ohnehin beendet die Schuldenbremse diese Diskussion rechtverbindlich. Staatskredite sind in angemessener Zeit zu tilgen. Nimmt die öffentliche Hand heute Schulden auf, muss sie morgen Steuergelder einsetzen, um die Kredite und Zinsen zu begleichen. 

Das Demokratieprinzip bestätigt diese verfassungsrechtlichen Vorgaben in seinem Ursprungsgedanken: no taxation without representation. Die Menschen entscheiden durch die Wahl mittelbar über die Steuern und Finanzen, die das gewählte Parlament beschließt. Staatsschulden kappen dieses grundlegende Band, wenn sie in der Zukunft von Menschen zu tragen sind, die noch nicht wählen dürfen. Hier ruht das Verführerische der staatlichen Kredite. Das Parlament kann eine ausgabenwirksame Politik beschließen, ohne sich unmittelbar um die Finanzierung bemühen zu müssen. Die Schuldenbremse dient demgegenüber dem grundlegenden Repräsentationsanliegen der Demokratie. Die Herausforderungen der Zeit sind grundsätzlich in der Gegenwart zu finanzieren.

„Hohe Staatsschulden sind eine Gefahr für den Staat, die Europäische Union, die Wirtschaftskraft und die Freiheit. Doch kommt es auf diese Kräfte in den gegenwärtigen Krisenzeiten an.“

Dieser Befund stand den Müttern und Vätern der Schuldenbremse vor Augen. Hohe Staatsschulden schlagen sich – so die Begründung des Entwurfs des verfassungsändernden Gesetzes – „dauerhaft in der Verengung staatlicher Handlungsmöglichkeiten sowie in Wachstums- und Beschäftigungsverlusten nieder.“ Auch das Bundesverfassungsgericht betont in seiner aktuellen Grundsatzentscheidung, dass verlässliche Grenzen der Staatsverschuldung notwendig sind, um die Demokratie zu erhalten. 

Der Bund gibt gegenwärtig rund 40 Mrd. Euro und damit ca. neun Prozent seines Budgets für Zinszahlungen aus. Die Wähler stellen die berechtigte Frage, warum diese Mittel dem Finanzmarkt und nicht einer nachhaltigen Politik zugutekommen. In den Jahren 1950 bis 2008, also in der Zeit vor der Niedrigzinsphase, hat Deutschland rund 1.600 Mrd. Euro an Krediten aufgenommen und etwa 1.500 Mrd. Euro für Zinsen ausgegeben. Der Staat hat letztlich kaum Finanzkraft gewonnen, aber die Gegenwart und die Zukunft mit erheblichen Zins- und Rückzahlungspflichten belastet. Diese Schuldenpolitik war gegenwarts- und zukunftsvergessen. 

Zu den erheblichen expliziten öffentlichen Schulden von aktuell rund 2.500 Mrd. Euro treten die deutlich höheren impliziten Staatsschulden, die auf zukünftige Leistungen in den umlagefinanzierten Sozialversicherungen und auf Versorgungsansprüche zurückzuführen sind. Diese Verpflichtungen sind schwer zu bemessen. Sie übersteigen nach allerdings groben Schätzungen die expliziten Verbindlichkeiten deutlich. Die demografische Entwicklung in Deutschland verschärft den Krisenbefund und die Gerechtigkeitsfragen. Die Schultern, die die Schulden in Zukunft tragen müssen, werden weniger. Wenn die Generation der sog. Babyboomer in den umlagefinanzierten Sozialsystemen nicht mehr Leistender, sondern Leistungsempfänger ist, kollabieren die Systeme in der gegenwärtigen Form. Sie sind daher zeitnah zu reformieren. 

Angesichts dieses hohen expliziten und impliziten Schuldenstandes sind der Finanzstaat Deutschland und auch der Euroraum in Gefahr. Damit sich diese Gefahren nicht realisieren, bedarf es der Schuldenbremse und des europäischen Stabilitätsrechts. Dieses Recht schützt die kommende Generation, die Demokratie, den Staat, die Europäische Union, die Wirtschaftskraft und die Freiheit. Gerade in den gegenwärtigen Krisenzeiten kommt es auf diese Kräfte an.


Keinen Ökonomen-Blog-Post mehr verpassen? Folgen Sie uns auf Facebook, Instagram und Twitter, und abonnieren Sie unseren RSS-Feed sowie unseren Newsletter.