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Der verkaufte Mensch

Frank Schirrmacher: Ego – Das Spiel des Lebens, München 2013, Blessing-Verlag Frank Schirrmacher hat den Diskurs über die Ökonomisierung des Lebens neu entfacht. Man muss seiner These der Wirtschaftsdiktatur und der damit verbundenen gesellschaftlichen Selbstdestruktion nicht folgen. Aber Schirrmacher zu ignorieren, wäre genauso ein Fehler.

Erst die Anti-Globalisierungsproteste, dann die Attac- und Occupy-Bewegung, jetzt Frank Schirrmacher. Kapitalismus- und Systemkritik sind nichts Neues, allerdings aus dem Lager prominenter bürgerlicher Mitte, zu dem der Autor immer noch zählt, schon. Schirrmacher ist ein hervorragender Analytiker, belesen, gedankenreich, rhetorisch geschärft und natürlich gewieft als Schlagwort-Verkäufer. Sein „Ego – Das Spiel des Lebens“ kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem sich schon fast keiner mehr so genau erinnern kann, was zuletzt die Occupy-Bewegung eigentlich wollte. Schirrmachers 350-Werk – das bisher wohl intellektuellste Format der vergangenen Jahre gegen das herrschende Wirtschaftssystem – nimmt sich die Ökonomisierung des Lebens zur Brust.

Mal wieder also, könnte man sagen. Es geht Schirrmacher aber nicht wie vielen Kapitalismuskritikern um die Ausbeutung der Arbeiter, die Schere von reich und arm oder die ressourcenzerstörenden Multikonzerne. Ihm geht es um das Phänomen der Entmachtung des Menschen grundsätzlich: Der moderne homo oeconomicus hat den Alltag des 21. Jahrhunderts erobert, er ist als „Nummer 2“ (Schirrmacher) in die Köpfe der Menschen eingedrungen, „um Waren und Politik zu verkaufen“. Er hat uns unserer Entscheidungsfreiheit beraubt – „das große Spiel läuft ohne uns“. Die Gedankenmodelle der Ökonomie hätten praktisch alle anderen Sozialwissenschaften erobert und beherrschten sie, meint Schirrmacher. Der sogenannte Informationskapitalismus wolle Gedanken lesen, kontrollieren, vereinnahmen und verkaufen. Jedes menschliche Tun und Trachten stünde hinter der erbarmungslosen Logik des Eigennutzes. Die Gesellschaft produziere Egos wie eine Fabrik Quietsche-Entchen. Niemand, insbesondere die Ökonomen, fragten mehr wie die Menschen tickten, sondern nur, wie sie leben und arbeiten müssten, damit die Formeln des ökonomischen Denkens funktionierten. Menschen würden zu Marionetten, „ein neuer Kalter Krieg im Herzen unserer Gesellschaft“ sei angebrochen.

Ursprung des Informationskapitalismus ist für Schirrmacher Amerika. Dort hat der Mensch seine Freiheit eingebüßt und ist vor allem wegen des Computers und seiner phänomenalen Vernetzungsleistungen und Rechenmöglichkeiten, mit denen er in Lichtgeschwindigkeit Millionen von Szenarien durchkalkulieren kann, zum Gegenstand des einzigen ökonomischen Modells, der Spieltheorie, geworden. Nicht nur mathematisch, ökonomisch, auch emotional: Menschliche Regungen würden zum Beispiel mit dem „Like-it“-Button auf Facebook vermessen, in Datenpakete zerlegt und so marktkonform gemacht. Wenn Maschinen mit Maschinen sprechen und die Zukunft der Welt entwerfen, ist der Mensch nur ein störender Faktor im System, meint der Autor. Schirrmachers Appell an die Leser: sich wehren und aus dem System aussteigen.

Die Dringlichkeit, mit der Schirrmacher schreibt, ist beeindruckend, manchmal ein wenig mühsam, fast belehrend – und leider fehlt ihm dieses Mal auch der Humor, der seine Werke sonst so bekömmlich macht. Dass zudem die Vorrangstellung des homo oeconomicus schon längst Gegenmodelle provoziert hat, die – wie der Philosoph Peter Sloterdijk konstatiert – Menschen hervorbringt, die wieder über Empathie, Kooperation, Generosität und andere Bürgertugenden nachdenken, ist Schirrmacher wohl bei Redaktionsschluss der Buches entgangen. Dennoch: Sein inspirierendes Werk gehört zur Pflichtlektüre für alle, die sich zumuten möchten, in der Diskussion über die Ökonomisierung des Lebens mitzumischen.